20. April 2024

Wo seid Ihr?

Die Straßen waren voller Demonstranten, als jüngst in Stuttgart der Juchtenkäfer in Gefahr geriet. Mit Tränengas und Steinen gingen die Kontrahenten aufeinander los. Nun aber, da durch das Unvermögen unserer Politiker die wirtschaftliche Existenz unserer Welt und namentlich auch die in Deutschland auf dem Spiele steht, herrscht auf den Straßen Frieden. Keine Schilder, kein Protest, keine Wutbürger.
Anlass gäbe es genug, zumal für junge Menschen. Zum einen, weil es so weit hat kommen können. Immer fanden die Politiker Gründe für zusätzliche Schulden: mal waren es Investitionen „in die Zukunft“, ein andermal ging es um Ausgaben, die „die Gerechtigkeit“ erfordere oder der „soziale Frieden“, Chimärenbegriffe, die ihre Attraktivität aus ihrer immerwährenden Subjektivität herleiten. Immer wieder haben sich Generationen an den ihnen nachfolgenden versündigt, haben ihnen die Bürde ihres schuldenfinanzierten Wohllebens aufgelastet. 
Das Ergebnis ist die katastrophale Haushaltssituation beinahe aller Industrieländer. Das gilt auch für Deutschland: Die öffentlichen Schulden unseres Landes betragen 82,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wo doch durch den Maastricht-Vertrag nur 60 Prozent erlaubt sind. Auch Deutschland hat gegen die Regeln seriöser Haushaltspolitik verstoßen, hat jene Latte immer wieder gerissen, die es selbst gefordert hatte, um den Euroraum stabil zu halten. Und es wäre immer so weitergegangen, hätten nicht die Ratingagenturen deutlich gemacht: Für Staaten gilt dieselbe Disziplin, der sich auch normale Privathaushalte unterwerfen müssen, es können also selbst die sonst in jeder Frage weltweit zu oft arroganten und präpotenten Industrieländer Pleite gehen samt der Investoren, die ihnen Geld geliehen haben.
Nun stehen wir still staunend vor dem Ergebnis: Selbst Amerika ist vom Staatsbankrott nicht weit entfernt, das Land muss sich vom Hauptgläubiger China den Kopf waschen lassen, das mehr als ein Viertel aller US-Auslandsschulden finanziert hat. Jenem Amerika, das die letzten 60 Jahre der Hegemon der Welt gewesen ist und das die Prärogative der Geopolitik besaß; jenem Amerika, auf das man zählen konnte, wenn die Teufel dieser Welt zum Eroberungsfeldzug antraten und das auch (West-) Deutschland befreite;  jenem Amerika,  dem wir neben manchem Schlechten aber vor allem das Gute zugetraut haben, schier unbegrenzte Freiheit und Debattenlust, die wir mit Filmen wie „Easy Rider“ oder mit Happenings wie in Woodstock mystifiziert haben; jenem  Amerika, das mit dem Dollar zum Sehnsuchtssymbol und zur weltweit wichtigsten Reservewährung aufgestiegen war; jenem Amerika, das den freien Welthandel sowohl dominierte als auch garantierte.    
Anlass für Demonstrationen zu Millionen gäbe es für die Facebook-Generation Europas heute aber auch deshalb, weil ihre Politiker noch immer nicht entschieden genug handeln. Sie retten sich durch neue Kredit- und Bürgschaftsversprechen gegenseitig über die Zeit, anstatt Europas Finanzpolitik zu vereinheitlichen. Was sie tun, tun sie zu spät und stets halbherzig, immer muss eine neue Wirklichkeit sie einholen. Sie reden, auch in Deutschland, immer noch über Steuersenkungen, anstatt alles freiwerdende Geld schleunigst und ausschließlich in den Schuldenabbau zu stecken und dafür einen europaweiten, verlässlichen und für jedes Euro-Land verbindlichen Plan vorzulegen. Stattdessen treiben sie, vor allem in den südlicheren Ländern, aber auch in den USA, Schabernack mit den Eitelkeiten der Machtlust, haben Wahlkämpfe und hohle Wahlurnenerfolge mehr im Blick als die Rettung des Ganzen. So gefährden sie das friedensstiftende Projekt Europa.
In Deutschland kommen zahlreiche politische Widersprüchlichkeiten hinzu: Wir bekommen nun eine Energiepolitik, die Strom künstlich verknappt, die Energiepreise hochtreibt, Autarkiemöglichkeiten vernachlässigt, Deutschland statt dessen noch mehr als bisher schon von prekären Lieferanten im Nahen Osten oder in Russland  abhängig macht. Die ersten großen Unternehmen, beispielsweise der Chemiekonzern Bayer,  drohen schon mit der Abmeldung vom Industriestandort Deutschland. Oder:  Wir erleben tagtäglich eine Bildungspolitik, die von Ideologien getrieben und durch föderalen Kleingeist geschädigt ist und die die Qualität der Bildung als Endprodukt schwer hat leiden lassen, die Schule wird zur unterhaltsamen Spielwiese, in der Leistung zu wenig belohnt und Nicht-Leistung zu wenig sanktioniert wird. Jeder Handwerksmeister kann mittlerweile lange Klagelieder über das so produzierte Bildungs-Ergebnis singen, ebenso aber die Universitäten, die mit Studienanfängern konfrontiert sind, denen Allgemeinbildung und sowieso die Kenntnis korrekten Schreibens abgeht. Oder die Familienpolitik: Man erklärt uns, bei höchsten Ausgaben für dieses Ressort,  jährlich neue familienpolitische Ansätze, und wir sehen als Ergebnis doch nur, dass Deutschland nun die niedrigste Geburtenziffer von allen Ländern der Europäischen Union aufweist.
Wenn das so weiter geht, geraten wir an die Grenzen der Demokratie. Hat man einmal die wirtschaftliche Existenz der Menschen, ihre Spareinlagen, ihre Renten, ihre Kapitalversicherungen, ihre Arbeitsplätze und damit wesentliche Teile ihrer Menschenrechte und -würde durch taktierende Politiker in Gefahr gebracht oder vernichtet, wird man ihnen die Vorzüge der Demokratie mit immateriellen Menschenrechts-Elementen nicht mehr erklären können. Dann reüssiert, wer starke Führung verspricht. Warum muss es so weit kommen?

Volk ohne Rückgrat. Brief an die Kanzlerin, 6

Verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel,
 
Sie sind, wie jedermann weiß, in Urlaub. Eben noch haben Sie die Salzburger Festspiele besucht, zuvor die in Bayreuth. Dort, im Fränkischen, wird alljährlich der wohl deutscheste aller Komponisten zelebriert, der mit seinen mythischen und jedenfalls das Deutsche pointierenden Libretti  ungebrochene Anziehungskraft entwickelt. So sind auch die Programmhefte mit Zitaten von zuspitzender Aphorismus-Kunst gespickt. In der diesjährigen Broschüre zu den  „Meistersingern“ hat man beispielsweise Spötter und Mahner versammelt, und oft möchte man sich als gegenwärtiger Leser distanzieren, findet, dass „wir“ eigentlich nicht so sind, wenn etwa Hugo von Hofmannsthal schreibt, die Deutschen seien „ernsthaft, sie sind tüchtig, sie arbeiten wie keine Nation auf der Welt, sie erreichen das Unglaubliche – aber es ist keine Freude, unter ihnen zu leben.“  Oder von Heinrich Heine: „Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ Aber dann spürt man: Ganz falsch ist es auch nicht.
 
Für dieses Volk müssen Sie Politik machen. Im Meistersinger-Programmheft beschreibt Henryk M. Broder es so: „Aus dem Volk ohne Raum wurde ein Volk ohne Rückgrat. Eine WG, in der darüber diskutiert wird, ob man sich über den Tod eines Massenmörders freuen darf, hat nicht alle Tassen im Schrank; ein Volk aber, das solchen Schabernack treibt, hat sich politisch und moralisch aufgegeben, ein Club der toten Seelen, getrieben vom Willen zur Ohnmacht. Alles, was es zu seinem Glück braucht, findet es bei OBI. Und wenn es mal auf die Barrikaden geht, dann nur um den Abriss eine hässlichen Bahnhofs zu verhindern. Wolfgang Poth hat recht: ‚Früher haben die Deutschen den Krieg erklärt, jetzt erklären sie ihr den Frieden.‘  Schwer zu sagen, was langfristig schlimmer ist.“ Und natürlich darf hier, wenn schon von Stuttgart 21 die Rede ist, das Zitat Richard Wagners nicht fehlen, wonach deutsch sei, eine Sache „um ihrer selbst und der Freude an ihr willen zu treiben“.
 
Womit wir beim Kern heutigen Regierens wären. Denn der Provinzposse, die da in Stuttgart aufgeführt wird, müsste man ja eigentlich keine Aufmerksamkeit schenken, entscheidet jede Region doch selbst über ihre Zukunftsaussichten und ihren Modernitätsanschluss. Aber die deutschen Journalisten, vornehmlich die öffentlich-rechtlichen Fernsehkollegen, rücken jede Demonstration von Baumschützern an die Spitze der Tagesschau, als habe diese Nation keine anderen Sorgen. Ähnlich war es mit den Demonstrationen gegen die Kernkraft: Auch hier wurden Minderheiten stets über ihre relative Bedeutung hinaus wahrgenommen, der Protest medial aufgeblasen, bis die Politik zurückwich, mutlos geworden in der Sache und zur Standhaftigkeit nicht mehr fähig. Schon kündigt sich rund um die dritte Startbahn des Münchner Flughafens das gleiche Prinzip an, und nicht ausgemacht ist, ob Bayerns Ministerpräsident Seehofer hier auch so rasch Bayerns Entwicklungschancen abräumt, wie er das bei der Kernkraft tat, der Bayerns Wirtschaft ein Gutteil ihrer Stärke verdankt.
 
Immer folgt die Politik in unparlamentarischer Eile, kaum noch jemand stellt sich der Symbiose aus lautstarkem Minderheitenprotest und fernsehjournalistischer Skandallust in den Weg. Minderheiten bestimmen den Weg, das Gefühl, die repräsentative Demokratie sei entwertet und Mehrheiten zählten nichts mehr, ist zur Gewissheit gereift. Das ärgert vornehmlich konservative Wähler, aber auch die anderen können sich nicht freuen – rasch könnte es einmal andersherum gehen.
 
Es ist Zeit, die Demokratie in Deutschland wieder aufzuwerten – durch Führungskunst, die den Widerspruch wagt.Ihr

Michael Rutz

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

Angela Zackig. Brief an die Kanzlerin, 5

Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel,
 
wenn man Kanzler ist, hat man keinen Urlaub. Immer lungern die Sicherheitsbeamten umher. Ständig kommen Anrufe. Boten mit Akten sind allgegenwärtig. So ging es Konrad Adenauer, als er in Cadenabbia am Comer See urlaubte. So war es bei Helmut Kohl am Wolfgangsee. Und so ergeht es Ihnen.
Gut, das Schicksal ist selbstgewählt. Vielleicht gelingt Ihnen aber doch etwas Erholung, denn wir brauchen Sie ausgeruht. Deutschland scheint zwar ganz aufgeräumt. Aber dieser Zustand ist, wie jeder weiß, brüchig. „Schönen  Sommer, Frau Merkel… der Herbst wird anstrengend“, titelte gerade eine Sonntagszeitung. Das kommt wohl so.
 
Das Euro-Desaster ist ja noch nicht zu Ende. Und jeder weiß, dass die Lösung „weniger Europa“ heißt, sondern „Mehr!“. Das Problem hat der Deutsche Bundestag bereits vor 61 (!) Jahren am 26. Juli 1950 in einer Entschließung formuliert: „In der Überzeugung, dass die gegenwärtige Zersplitterung Europas in souveräne Einzelstaaten die europäischen Völker von Tag zu Tag mehr in Elend und Unfreiheit führen muss, tritt der Bundestag…  für einen europäischen Bundespakt ein“, der „eine übernationale Bundesgewalt schaffen“ und sie „mit allen Befugnissen ausstatten“ solle zur Herbeiführung der „wirtschaftlichen Einheit Europas“, für „eine gemeinsame europäische Außenpolitik“, für „die Gleichheit der Rechte aller europäischen Völker“ und für eine Garantie der „Grundrechte und menschlichen Freiheiten der europäischen Bürger.“.
Damit ist die Frage der Finalität Europas gestellt: Bundesstaat oder bloß Staatenbund? Bis heute haben wir sie nicht ehrlich beantwortet. Die Antwort muss lauten: Bundesstaat, denn wir sehen durch die zersplitterte Wirtschafts- und Finanzpolitik eben jenes Elend heraufziehen, von dem unsere parlamentarischen Vorväter sprachen. Konrad Adenauer beschreibt diese aktive Europapolitik in seinen „Erinnerungen 1945 -1953“ überzeugungskräftig. Das lohnt sich nachzulesen, weil es nun darum gehen muss, den Menschen nicht weiter den Staatenbund vorzugaukeln.
 
Das gilt umso mehr, als – für jeden sichtbar – das amerikanische Zeitalter nach 100 Jahren zu Ende geht. Der Westen wird eingeholt von den Verschuldungsarien der letzten drei Jahrzehnte, eine permanente Verachtung der Warnungen seriöser Nationalökonomen. Politisch war es eben zu verlockend,  stets den Rattenfängern von der keynesianischen Neuverschuldungsfraktion zu folgen. Jetzt zahlen wir die Zeche: Radikaler Schuldenabbau mit entsprechendem Konsumverzicht – oder Staatspleite. Die Japaner sind pleite, die Amerikaner auch, Griechenland sowieso, in Italien, Portugal und Spanien fehlt nur wenig und auch bei uns nicht viel. Wir Bürger wissen das und wir wollen, dass Europa und der Euro (und damit unser Erspartes) mit allergrößten Anstrengungen und seriöser, solider Sparpolitik gerettet werden. Vor uns liegt das Jahrhundert Chinas, ein schuldenfreies Land mit größten Devisenreserven, das schon diverse westliche Staatshaushalte mitfinanziert. Da wünschen wir uns nun eine Kanzlerin, die das alles offen ausspricht, die Europa brutal zum Sparen zwingt, die die Finanzpolitik aller Länder des Euro-Raumes und ihre Bürger unter die Knute einer gemeinsamen rigiden Finanzpolitik bringt, damit wir Europäer überhaupt noch eine Chance haben, uns zu behaupten.
 
Alle anderen Themen treten dahinter zurück: Die heuchlerische Debatte über Panzerlieferungen an die Saudis, deren Öl wir so dringend brauchen wie das russische Gas oder die Kauflaune der Chinesen, die wir aber ständig mit menschenrechtlichen Belehrungen traktieren. Oder die Debatte um die angeblichen „Steuersenkungen“, die in Wirklichkeit nur verhinderte Steuererhöhungen für kleine und mittlere Einkommen sind, die andernfalls durch die „kalte Progression“ immer höher besteuert werden. Oder die Energiewende, deren Ungereimtheiten nicht nur beim Bundespräsidenten für Ratlosigkeit sorgen. Also, es gibt im Herbst viel zu tun, wenn der Urlaub vorbei ist. Und dann möchte ich solche Überschriften nicht mehr lesen wie letzten Sonntag angesichts der Selbstausrufung Peer Steinbrücks zum Kanzlerkandidaten 2013: „Dr. Zauder trifft Mr. Zackig“. Ab Herbst muss es, wenn man von Ihnen spricht, heißen:  „Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Zackig“.
 
Ihr
 
Michael Rutz(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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