1. Mai 2024

Wo seid Ihr?

Die Straßen waren voller Demonstranten, als jüngst in Stuttgart der Juchtenkäfer in Gefahr geriet. Mit Tränengas und Steinen gingen die Kontrahenten aufeinander los. Nun aber, da durch das Unvermögen unserer Politiker die wirtschaftliche Existenz unserer Welt und namentlich auch die in Deutschland auf dem Spiele steht, herrscht auf den Straßen Frieden. Keine Schilder, kein Protest, keine Wutbürger.
Anlass gäbe es genug, zumal für junge Menschen. Zum einen, weil es so weit hat kommen können. Immer fanden die Politiker Gründe für zusätzliche Schulden: mal waren es Investitionen „in die Zukunft“, ein andermal ging es um Ausgaben, die „die Gerechtigkeit“ erfordere oder der „soziale Frieden“, Chimärenbegriffe, die ihre Attraktivität aus ihrer immerwährenden Subjektivität herleiten. Immer wieder haben sich Generationen an den ihnen nachfolgenden versündigt, haben ihnen die Bürde ihres schuldenfinanzierten Wohllebens aufgelastet. 
Das Ergebnis ist die katastrophale Haushaltssituation beinahe aller Industrieländer. Das gilt auch für Deutschland: Die öffentlichen Schulden unseres Landes betragen 82,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wo doch durch den Maastricht-Vertrag nur 60 Prozent erlaubt sind. Auch Deutschland hat gegen die Regeln seriöser Haushaltspolitik verstoßen, hat jene Latte immer wieder gerissen, die es selbst gefordert hatte, um den Euroraum stabil zu halten. Und es wäre immer so weitergegangen, hätten nicht die Ratingagenturen deutlich gemacht: Für Staaten gilt dieselbe Disziplin, der sich auch normale Privathaushalte unterwerfen müssen, es können also selbst die sonst in jeder Frage weltweit zu oft arroganten und präpotenten Industrieländer Pleite gehen samt der Investoren, die ihnen Geld geliehen haben.
Nun stehen wir still staunend vor dem Ergebnis: Selbst Amerika ist vom Staatsbankrott nicht weit entfernt, das Land muss sich vom Hauptgläubiger China den Kopf waschen lassen, das mehr als ein Viertel aller US-Auslandsschulden finanziert hat. Jenem Amerika, das die letzten 60 Jahre der Hegemon der Welt gewesen ist und das die Prärogative der Geopolitik besaß; jenem Amerika, auf das man zählen konnte, wenn die Teufel dieser Welt zum Eroberungsfeldzug antraten und das auch (West-) Deutschland befreite;  jenem Amerika,  dem wir neben manchem Schlechten aber vor allem das Gute zugetraut haben, schier unbegrenzte Freiheit und Debattenlust, die wir mit Filmen wie „Easy Rider“ oder mit Happenings wie in Woodstock mystifiziert haben; jenem  Amerika, das mit dem Dollar zum Sehnsuchtssymbol und zur weltweit wichtigsten Reservewährung aufgestiegen war; jenem Amerika, das den freien Welthandel sowohl dominierte als auch garantierte.    
Anlass für Demonstrationen zu Millionen gäbe es für die Facebook-Generation Europas heute aber auch deshalb, weil ihre Politiker noch immer nicht entschieden genug handeln. Sie retten sich durch neue Kredit- und Bürgschaftsversprechen gegenseitig über die Zeit, anstatt Europas Finanzpolitik zu vereinheitlichen. Was sie tun, tun sie zu spät und stets halbherzig, immer muss eine neue Wirklichkeit sie einholen. Sie reden, auch in Deutschland, immer noch über Steuersenkungen, anstatt alles freiwerdende Geld schleunigst und ausschließlich in den Schuldenabbau zu stecken und dafür einen europaweiten, verlässlichen und für jedes Euro-Land verbindlichen Plan vorzulegen. Stattdessen treiben sie, vor allem in den südlicheren Ländern, aber auch in den USA, Schabernack mit den Eitelkeiten der Machtlust, haben Wahlkämpfe und hohle Wahlurnenerfolge mehr im Blick als die Rettung des Ganzen. So gefährden sie das friedensstiftende Projekt Europa.
In Deutschland kommen zahlreiche politische Widersprüchlichkeiten hinzu: Wir bekommen nun eine Energiepolitik, die Strom künstlich verknappt, die Energiepreise hochtreibt, Autarkiemöglichkeiten vernachlässigt, Deutschland statt dessen noch mehr als bisher schon von prekären Lieferanten im Nahen Osten oder in Russland  abhängig macht. Die ersten großen Unternehmen, beispielsweise der Chemiekonzern Bayer,  drohen schon mit der Abmeldung vom Industriestandort Deutschland. Oder:  Wir erleben tagtäglich eine Bildungspolitik, die von Ideologien getrieben und durch föderalen Kleingeist geschädigt ist und die die Qualität der Bildung als Endprodukt schwer hat leiden lassen, die Schule wird zur unterhaltsamen Spielwiese, in der Leistung zu wenig belohnt und Nicht-Leistung zu wenig sanktioniert wird. Jeder Handwerksmeister kann mittlerweile lange Klagelieder über das so produzierte Bildungs-Ergebnis singen, ebenso aber die Universitäten, die mit Studienanfängern konfrontiert sind, denen Allgemeinbildung und sowieso die Kenntnis korrekten Schreibens abgeht. Oder die Familienpolitik: Man erklärt uns, bei höchsten Ausgaben für dieses Ressort,  jährlich neue familienpolitische Ansätze, und wir sehen als Ergebnis doch nur, dass Deutschland nun die niedrigste Geburtenziffer von allen Ländern der Europäischen Union aufweist.
Wenn das so weiter geht, geraten wir an die Grenzen der Demokratie. Hat man einmal die wirtschaftliche Existenz der Menschen, ihre Spareinlagen, ihre Renten, ihre Kapitalversicherungen, ihre Arbeitsplätze und damit wesentliche Teile ihrer Menschenrechte und -würde durch taktierende Politiker in Gefahr gebracht oder vernichtet, wird man ihnen die Vorzüge der Demokratie mit immateriellen Menschenrechts-Elementen nicht mehr erklären können. Dann reüssiert, wer starke Führung verspricht. Warum muss es so weit kommen?
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