24. April 2024

Volk ohne Rückgrat. Brief an die Kanzlerin, 6

Verehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Merkel,
 
Sie sind, wie jedermann weiß, in Urlaub. Eben noch haben Sie die Salzburger Festspiele besucht, zuvor die in Bayreuth. Dort, im Fränkischen, wird alljährlich der wohl deutscheste aller Komponisten zelebriert, der mit seinen mythischen und jedenfalls das Deutsche pointierenden Libretti  ungebrochene Anziehungskraft entwickelt. So sind auch die Programmhefte mit Zitaten von zuspitzender Aphorismus-Kunst gespickt. In der diesjährigen Broschüre zu den  „Meistersingern“ hat man beispielsweise Spötter und Mahner versammelt, und oft möchte man sich als gegenwärtiger Leser distanzieren, findet, dass „wir“ eigentlich nicht so sind, wenn etwa Hugo von Hofmannsthal schreibt, die Deutschen seien „ernsthaft, sie sind tüchtig, sie arbeiten wie keine Nation auf der Welt, sie erreichen das Unglaubliche – aber es ist keine Freude, unter ihnen zu leben.“  Oder von Heinrich Heine: „Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ Aber dann spürt man: Ganz falsch ist es auch nicht.
 
Für dieses Volk müssen Sie Politik machen. Im Meistersinger-Programmheft beschreibt Henryk M. Broder es so: „Aus dem Volk ohne Raum wurde ein Volk ohne Rückgrat. Eine WG, in der darüber diskutiert wird, ob man sich über den Tod eines Massenmörders freuen darf, hat nicht alle Tassen im Schrank; ein Volk aber, das solchen Schabernack treibt, hat sich politisch und moralisch aufgegeben, ein Club der toten Seelen, getrieben vom Willen zur Ohnmacht. Alles, was es zu seinem Glück braucht, findet es bei OBI. Und wenn es mal auf die Barrikaden geht, dann nur um den Abriss eine hässlichen Bahnhofs zu verhindern. Wolfgang Poth hat recht: ‚Früher haben die Deutschen den Krieg erklärt, jetzt erklären sie ihr den Frieden.‘  Schwer zu sagen, was langfristig schlimmer ist.“ Und natürlich darf hier, wenn schon von Stuttgart 21 die Rede ist, das Zitat Richard Wagners nicht fehlen, wonach deutsch sei, eine Sache „um ihrer selbst und der Freude an ihr willen zu treiben“.
 
Womit wir beim Kern heutigen Regierens wären. Denn der Provinzposse, die da in Stuttgart aufgeführt wird, müsste man ja eigentlich keine Aufmerksamkeit schenken, entscheidet jede Region doch selbst über ihre Zukunftsaussichten und ihren Modernitätsanschluss. Aber die deutschen Journalisten, vornehmlich die öffentlich-rechtlichen Fernsehkollegen, rücken jede Demonstration von Baumschützern an die Spitze der Tagesschau, als habe diese Nation keine anderen Sorgen. Ähnlich war es mit den Demonstrationen gegen die Kernkraft: Auch hier wurden Minderheiten stets über ihre relative Bedeutung hinaus wahrgenommen, der Protest medial aufgeblasen, bis die Politik zurückwich, mutlos geworden in der Sache und zur Standhaftigkeit nicht mehr fähig. Schon kündigt sich rund um die dritte Startbahn des Münchner Flughafens das gleiche Prinzip an, und nicht ausgemacht ist, ob Bayerns Ministerpräsident Seehofer hier auch so rasch Bayerns Entwicklungschancen abräumt, wie er das bei der Kernkraft tat, der Bayerns Wirtschaft ein Gutteil ihrer Stärke verdankt.
 
Immer folgt die Politik in unparlamentarischer Eile, kaum noch jemand stellt sich der Symbiose aus lautstarkem Minderheitenprotest und fernsehjournalistischer Skandallust in den Weg. Minderheiten bestimmen den Weg, das Gefühl, die repräsentative Demokratie sei entwertet und Mehrheiten zählten nichts mehr, ist zur Gewissheit gereift. Das ärgert vornehmlich konservative Wähler, aber auch die anderen können sich nicht freuen – rasch könnte es einmal andersherum gehen.
 
Es ist Zeit, die Demokratie in Deutschland wieder aufzuwerten – durch Führungskunst, die den Widerspruch wagt.Ihr

Michael Rutz

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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