19. März 2024

Außenpolitische Gefahren

Außenpolitik ist derzeit ein besonders kompliziertes Geschäft. Denn es fällt nicht schwer zu erkennen, dass sich die Welt gegenwärtig neu ordnet. Regionen, deren weltpolitisches Gewicht vor zehn Jahren noch schmal war, haben sich durch Disziplin und wirtschaftlichen Erfolg zu außenpolitischem Gewicht aufgeschwungen, andere durch wachsende militärische Drohgebärden und Gewalt.

Vor allem China nimmt weltweit Einfluss. Zahlreiche bilaterale Verträge mit afrikanischen und südamerikanischen Staaten – chinesische Staatshilfe gegen Rohstoffe – verschaffen Peking geopolitisch Gewicht. In der Zusammenarbeit der BRICS-Staaten, die sich unter anderem auch dem Aufbau eines eigenen Zahlungssystems sowie eigener Rating-Agenturen zuwenden, ist China der mächtigste Partner. Und ganz offenkundig legen diese Staaten und vor allem China Wert darauf, eigene Herrschafts- und Demokratiemodelle zu verfolgen sowie Wertemuster zu pflegen, die denen des Westens nicht entsprechen.

Wenn die Kanzlerin also nach China reist, der Vizekanzler Vladimir Putin trifft oder der deutsche Außenminister in Riad und Teheran vorspricht, dann möchten die Gastgeber von Deutschland keine Kritik hören – nicht an ihrem Gesellschaftskonstrukt, auch nicht am Menschenrechtsmodell. Vielmehr wollen sie wissen, ob sie im sichtbar maroden neonationalistischen Club der Europäischen Union überhaupt noch als Gesprächspartner willkommen sind und welchen geopolitischen Koordinaten Deutschland und die Europäische Union zu folgen gedenken. Sie möchten Anhaltspunkte dafür haben, ob die EU überhaupt noch geeint auftritt oder ob sie mit ihrer Politik, durch viele bilaterale Abmachungen die europäische Einheit zu spalten, erfolgreich sein können.

Antworten können wir nur geben, wenn wir selbst einen klaren Kurs haben. Daran fehlt es. Die Sanktionen gegen Russland mögen aus gutem Grund beschlossen worden sein. Sie geben aber noch keine Antwort darauf, welchen Platz wir Russland künftig im europäischen Haus einräumen wollen. War es ernst gemeint mit dem Angebot eines einzigen großen Wirtschaftsraumes zwischen Lissabon und Wladiwostok? Wird Russland wieder in die Gipfelrunden der westlichen Industriestaaten eingeladen? Wird der Nato-Russland-Rat wieder aktiviert? Welchen Preis genau verlangen wir von Russland für eine erneute Annäherung? Und was China betrifft: Mit welcher Offerte wollen wir Chinas gestiegene politische und wirtschaftliche Macht in den internationalen Organisationen abbilden?

Keine Option ist es, diese Fragen weiter aufzuschieben. Das internationale Gefüge ächzt unter Krisen und Kriegen, Lösungen gibt es nur gemeinsam. Der Ton aber ist weithin undiplomatisch geworden, separatistische Tendenzen schwächen die Europäische Union, während die Vereinigten Staaten schon wieder dem nächsten Wahlkampf zustreben, dessen Aufgeregtheiten für klassische Außenpolitik keine gute Beratung abgeben. Man muss sich gegenwärtig große Sorgen machen. In Sicht ist zwar eine Verschärfung der Lage – Anzeichen zu deren Besserung aber gibt es nicht.

Europas Würde – gerettet?

In meinem Gemüsegarten steht noch der Lauch, aus dem Gewächshaus sind die letzten Gurken und Tomaten geerntet, Platz bleibt nur noch für Salat. Ein paar Kohlrabi finden sich noch im Beet. Aber der Apfelbaum hängt voller frisch – saftiger Boskop-Früchte, ein Apfel pro Tag hält bekanntlich den Doktor fern.

Auch die Quitten wurden dieser Tage vom Baum gepflückt, daraus ist Quittengelee geworden und aus dem Trester Quittenbrot. Manches davon bringen die Nachbarn zum „Flüchtlingscafe“ mit, das zweimal im Monat im Gemeindehaus stattfindet. Die 60 Flüchtlinge sind in unserem Heidedorf akzeptiert, die Hilfsbereitschaft hat nicht abgenommen. Und wir wissen sicher: Es werden noch mehr kommen.

Wie auch anders? Nichts kann Millionen von Flüchtlingen aufhalten, kein Militär mit Schusswaffen, keine Zäune, ohne dass es zu menschlichen Katastrophen käme und die Wertegemeinschaft Europas sich zutiefst blamieren müsste. Die Völkerwanderung schafft sich ihre Fakten selbst.

Man kann sagen: Angela Merkel hat, indem sie die Grenzen öffnete, diese Alternativlosigkeit erkannt. Durch ihr Willkommen aber hat sie auch die europäische humanistische Idee gerettet. Sie hat getan, was Christenpflicht ist: ”Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. … Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matth. 25, 35 + 40)

Die allermeisten Flüchtlinge kommen nach Europa ja nicht, weil hier die Teller gefüllter wären. Sie hoffen vor allem auf ein friedliches, ein menschenwürdiges Leben ohne Krieg, sie wollen ein Stück irdischen Lebensglücks, das ihnen ihre Heimat nicht mehr gewähren kann. Und viele werden heimkehren, wenn ihre Heimat wieder sicher ist.

Sie kommen in eine demokratische Staatengemeinschaft freier Menschen, einen Rechtsstaat, in der Mann und Frau gleichberechtigt sind; und in der Toleranz zwischen den Religionen selbstverständliches Gebot ist. Das müssen sie für sich so leben, denn das alles zusammen definiert diesen Garten Eden – die Europäische Union.

Warum aber beteiligen wir daran nur jene, die es bis zu uns geschafft haben? Warum sorgen wir nicht intensiver dafür, dass auch anderswo ein solches Leben möglich ist, man also nicht bei Gefahr für Leib und Leben aufbrechen muss in andere Erdteile? Wie gehen wir also mit den Brutstätten des Terrors in Syrien, Libyen, Afghanistan, Eritrea, Saudi-Arabien um?

„Den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des ‚Islamischen Staates’ oder des Assad-Regimes“, hat Friedenspreisträger Navid Kermani eben in Frankfurt gesagt – und alle haben ergriffen applaudiert. Die Suche nach einer Antwort auf Kermanis Anfrage wird gewiss die nächsten Monate bestimmen.

Moral und Außenpolitik

Die Reise der Kanzlerin in die Türkei, aber auch der Vorstoß von EU-Kommissionspräsident Juncker für einen konstruktiven Umgang mit Russland haben die Debatte angefacht, in welchem Maße Werte unsere Außenpolitik bestimmen sollten. Ist die Einhaltung unserer Vorstellung von Menschenrechten Voraussetzung für außenpolitische Partnerschaft?

Tatsächlich sind die Ziele der Außenpolitik vielfältig, wenn sie auch einfältig klingen: „Foreign Policy is about national interests“, Außenpolitik hat mit nationalen Interessen zu tun, hat Margaret Thatcher einmal gesagt, und so ist es auch.

Welche Interessen sind das? Zunächst geht es um nationale und internationale Sicherheit. Denn die Abwesenheit von Krieg ist die wesentliche Voraussetzung für ein geordnetes Staatswesen und für ein Leben, das persönliche Freiheit, eine stabile Existenzgrundlag und ein freundliches soziales Umfeld verspricht.

Das zweite Ziel der Außenpolitik ist eine florierende Wirtschaft. Sie stabilisiert eine Nation. In Deutschland werden Millionen Arbeitsplätze durch den Export in aller Herren Länder garantiert – ohne in Frieden lebende Handelspartner, ohne gesicherte Transportwege, ohne eine verlässliche weltweite Infrastruktur ginge das alles nicht.

Darum haben sich viele Länder der Welt bemüht. Sie sind vom Entwicklungsland zum Schwellenland, manche sogar zur Industrienation aufgestiegen. Jetzt wächst auch dort der Lebensstandard. Die Menschen haben zu arbeiten, zu essen, zu leben.

Demokratie? Wer die Welt kennt, der weiß, dass das in vielen Ländern nicht die erste Sorge der Menschen ist. In Bert Brechts „Dreigroschenoper“ heißt es: „Wie ihr es immer dreht und immer schiebt, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Erst muss es möglich sein, auch armen Leuten vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.“

Warum also mit einer totalitären Regierung nur über ideelle Interessen reden, wenn in ihrem Land noch um inneren Frieden und eine ausreichende Ernährungslage gekämpft wird? Für Menschenrechts-Plädoyers ist Zeit und Notwendigkeit, wenn diese ersten Ziele der Außenpolitik erledigt sind. Denn auch Teilhabe an der politischen Macht befriedet ein Land, und Länder mit gleichgerichteten Werteparadigmen werden miteinander auch Sicherheit und Wohlstand am besten organisieren können.

Die Zielkonflikte, denen sich Außenpolitik heute ausgesetzt sieht (und die sie schon immer aushalten musste), zeigen, dass zu gegebener Zeit selbst mit Halb- und Volldiktatoren ein pfleglicher Umgang angeraten sein kann. Wir brauchen Russland, die Türkei, wir brauchen Saudi-Arabien und müssen selbst Nordkorea um des lieben Friedens willen pflegen.

So kommt am Ende alles auf eine gewisse Ehrlichkeit an. Nur wer offen eingesteht, dass Menschenrechte und Demokratie nicht die alleinigen Ziele von Außenpolitik sind, wird in der Außenpolitik Statur haben. Man muss, das anerkennend, keines der drei Ziele aufgeben. Zuerst kommt der Friede. Dann das Essen. Dann, so haben wir gelernt, beginnt der Hunger nach Bildung. Und wer gebildet ist – zumal unter den Bedingungen des weltumspannenden Internets – der wird auch die Freiheit schätzen lernen. Sie kommt, macht man es richtig, sozusagen von selbst.

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