18. Mai 2024

Europa darf seine Stunde nicht versäumen

Bedeutende Errungenschaften kommen und gehen. Manchmal eröffnen sich die Chancen – aber keiner ergreift sie. Und nicht selten wird eine großartige Gegenwart vertan, weil man sie für selbstverständlich hält und sie nicht sorgsam pflegt.

In dieser Gefahr steht gegenwärtig die Europäische Union. Im Inneren droht sie von Nationalismus zerfressen zu werden, der sich aus primitivem Neid und der Idee einer Volkszugehörigkeit speist, die dem ius sanguinis näher ist als jeder anderen Begründung von Staatsangehörigkeit. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Abschottung sind dann nicht mehr weit. Das kann nicht Sache von Christen sein.

Im Äußeren aber haben Russland und nun auch Amerikas Präsident entdeckt, dass Ihnen eine Europäische Union im Wege sein kann, die einig ist im Handel und ihre Verteidigung gemeinsam organisiert. Deshalb versuchen sie, mit attraktiven bilateralen Abkommen einzelne Staaten herauszubrechen und so die Kraft des Europäischen Verbundes zu zerstören.

Wo bleibt der Aufschrei? Wo bleiben die politischen und auch christlichen Missionare, die von den Kanzeln unserer Zeit den Menschen in Europa davon erzählen, wie schnell die Friedensdividende der europäischen Idee verspielt sein kann?

Einer, der heute diese Gefahr erkennen und sofort die Kanzeln erklimmen würde, ist der große Theologe Romano Guardini, dessen 50. Todestag wir in diesen Monaten gedenken. Vor dem zweiten Weltkrieg machte er, vom Lehrstuhl an der Humboldt-Universität in Berlin und auf den Kanzeln der Hauptstadt, den Nazis die Einvernahme des historischen Jesus in ihre antisemitische Ideologie streitig und focht gegen den ausgrenzenden Faschismus, gegen den Niedergang der Demokratie. Nachdem Kriege setzte er seine Kämpfe für die christliche Freiheit an der Universität München fort, wo sein Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie zu den intellektuell attraktivsten Angeboten der Universität gehörte.

Die Menschen, die ihm, dem Universitätsprediger, sonntags in der meist überfüllten Münchner Ludwigskirche zuhörten, spürten: Da war ein Universalgelehrter, den liturgische und dogmatische Fragen seiner Kirche ebenso umtrieben wie die christlichen Grundlegungen der Gesellschaft, der Politik, der Literatur, der Wissenschaft, der Musik. Guardini redete mit Leidenschaft, er hatte einen feinen Sinn für die Gefährdungen der Menschenwürde. Er konnte die dem Christen auferlegten Pflichten nicht nur nennen, sondern sie in die Anforderungen der Gegenwart transponieren.

In Italien geboren und in Deutschland beruflich etabliert stand Guardini zwischen zwei Nationen, die ihm Heimat gaben. Er überspannte diese Dichotomie mit dem festen Bewusstsein, Europäer zu sein, was ihm nicht nur eine geografische Festlegung gewesen ist. Europäer wollte er auch sein, weil er die gemeinsame christliche und (damit eng verbundene) kulturelle Geschichte Europas für das einzige Fundament hielt, auf dem diese Gemeinsamkeit würde bestehen können.

Wenn nun wieder, in der Folge der großen Flüchtlingsströme, das Andere, das Fremde zum Verkehrten und Bedrohlichen, zum Feindlichen umgedeutet wird und ein Staat wieder Feinde haben kann – dann würde Guardini daran erinnern, wie stark doch die Widerstände gegen solche Vorgänge wie die Bildung einer echten europäischen Gesinnung noch sind und wie viel noch geschehen muss.

So tat er es 1962 in seiner großen Rede „Warum ich Europäer bin“, als er in Brüssel den Praemium Erasmianum erhielt. Guardini wägt darin „Begabungen“ einzelner Erdteile ab und weist Europa mit seinen Erfahrungen großer Erfolge und großen Leides und vor dem Hintergrund des ins Menschliche tief eingreifenden technischen Fortschritts die Aufgabe zu, „Kritik an der Macht“ zu üben.

Er schreibt: „Nicht negative Kritik, weder ängstliche noch reaktionäre; aber ihm sei die Sorge um den Menschen anvertraut, weil es dessen Macht nicht als Gewähr sicherer Triumphe, sondern als Schicksal erlebt, von dem dahinsteht, wohin es führen werde… Europa hat die Idee der Freiheit – des Menschen wie seines Werkes – hervorgebracht; ihm wird es vor allem obliegen, in Sorge um die Menschlichkeit des Menschen, zur Freiheit auch gegenüber seinem eigenen Werk durchzudringen.“

Damit dieses Europa wirklich entstehe, sei es notwendig, „dass jede seiner Nationen ihre Geschichte umdenke; dass sie ihre Vergangenheit auf das Werden dieser großen Lebensgestalt hin verstehe.“ Guardini sah Europas Zukunft in einem die kulturelle Lebensfülle aller Stämme umfassenden Bundestaat, eine Aufgabe, an der das antike Griechenland gescheitert sei, weshalb es in römische Unfreiheit versank. Und er endet seinen Vortrag: „Auch Europa kann seine Stunde versäumen. Das würde bedeuten, dass eine Einung nicht als Schritt in freieres Leben, sondern als ein Absinken in gemeinsame Knechtschaft verwirklicht würde.“

Ein Appell, der aus dem Heute kommt. Es lohnt sich, Guardini auch als großen Europäer wiederzuentdecken.

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