19. März 2024

Bis es quietscht

Das abgenutzte Deutschland, so schluchzt es aus den Talkshows, brauche einen neuen Aufbruch, das ermüdete Personal müsse durch eine neue Politikergeneration abgelöst werden. Wo leben diese Nörgler? Deutschland befindet sich in der besten Verfassung seit Jahrzehnten, die Leute haben Arbeit und Einkommen, es lässt sich hier so gut leben wie nirgendwo, weshalb auch die halbe Welt zu uns ziehen möchte, die vorhandenen Politiker haben gut regiert. Aber es gilt: Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen.

So auch der Oberton beim SPD-Parteitag: Deutschland als Jammertal, voller sozialer Ungerechtigkeiten, deren Behebung man nun der CDU/CSU abtrotzen müsse, nachverhandeln „bis es quietscht“. Diese Jammerliste ausgerechnet von Andrea Nahles vorgeführt zu bekommen, entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe – sie war schließlich in den vergangenen vier Jahren Bundesministerin für Arbeit und Soziales der Großen Koalition, die ohnehin die politische Handschrift der Sozialdemokraten trug. Statt darauf stolz zu sein, üben sich die Sozialdemokraten in Selbstgeißelung. Sie werden nicht durch die CDU-Kanzlerin minimiert, sondern durch sich selbst.

Die SPD möchte, beispielsweise, die Ärztehonorare für die Behandlung von Privatpatienten denen für gesetzlich Versicherte angleichen, um den Anreiz zu bevorzugter Terminvergabe für Privatpatienten zu zerstören. Zerstört wird damit etwas ganz anderes: Viele Arztpraxen (gerade auf dem ohnehin schon unterversorgten Land) rechnen sich nur dadurch, dass die höheren Privathonorare die gesetzlichen Fallpauschalen gewissermaßen subventionieren. Auch will die SPD die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen. Sie unternimmt damit einen Anschlag auf kleine und mittlere Unternehmen, die nicht wissen, wie ihr wirtschaftlichen Morgen aussieht und daher bei den Personalkosten vorsichtig agieren. Zudem möchte die SPD die Bildungskompetenz auf den Bund übertragen: Wenn das bedeutet, dass die Schulqualität sozialdemokratischer Bundesländer Allgemeinstandard werden soll, dann hat die deutsche Bildungskatastrophe ihre Zukunft noch vor sich, die gegenwärtig vom vergleichenden „Benchmarking“ (im Blick auf Bayern oder Baden-Württemberg) noch einigen Leistungsansporn erhält.

Das alles kann für die Union nicht in Frage kommen. Wenn aber der SPD das Sondierungspapier nichts mehr gilt, dann hat auch die Unions-Klientel Wünsche: Abschaffung des Soli nicht nur für kleine und mittlere Einkommen, sondern für alle; zusätzliche steuerliche Entlastung für alle forschenden Unternehmen, um Zukunftstechnologien im Lande zu halten – auch die grüne und Human-Gentechnologie sowie die forschenden Pharmaunternehmen; eine radikal durchgreifende Digitalisierungsoffensive in der Infrastruktur und in den Schulen, um den Zukunftsanschluss in allen Teilen des Landes zu ermöglichen; einen marktwirtschaftlichen Umbau der Energiepolitik; und eine Flüchtlings-Integrationspolitik, die erstens viel mehr fordert, wenn sie schon so stark fördert und die zweitens den zusätzlichen Familiennachzug geringer ausfallen lässt als vorgesehen.

Man darf gespannt sein, ob der Erfolg der Union wiederum nur in der Feststellung besteht, man habe Schlimmeres verhindern können.

GroKo: Europa gewinnt

Wie es deutscher Kritiklust entspricht, wird derzeit am Sondierungsergebnis für eine Neuauflage der so genannten „Großen“ Koalition viel herumgenörgelt. Gründe gibt es genug, für viele CDU-Wähler etwa das Ausbleiben von Steuersenkungen trotz maximalen staatlichen Steueraufkommens. Aber das Papier enthält tatsächlich vieles von dem, was in der Präambel versprochen wird, nämlich eine „entschlossene“ Lösung der „großen Fragen unserer Zeit.“

Aufsehen erregend ist und unbedingt richtig ist, dass an erster Stelle die Absicht für „einen neuen europapolitischen Aufbruch“ steht. Er ist auch dringend notwendig. Denn politische Ereignisse wie der Austritt Großbritanniens und auch Entscheidungen wie jene der Flüchtlingskrise haben das Vertrauen der EU-Bürger in die gemeinsame Handlungsfähigkeit der EU ausgehöhlt und die übernationale Zusammenarbeit geschwächt.

Dabei ist nichts notwendiger als ein Ausbau der Zuständigkeiten der Europäischen Kommission bei gleichzeitiger Stärkung der Kontrolle durch das Europäische Parlament. Die Welt und unsere Konkurrenten warten nicht auf ein einheitliches europäisches Handeln, sondern lassen diesen Kontinent rasch zum Opfer werden: Im weltweiten Austausch von Waren, Informationen und Menschen, bei der digitalen Revolution, bei der neuen weltweiten Sicherheitsstruktur und der Verteilung von Einflusssphären. Da steht für Europa mehr auf dem Spiel als „nur“ technologischer Vorsprung oder Arbeitsplätze. Vielmehr geht es ganz besonders auch um die Zukunft unseres Lebensstils: einer freien Demokratie, die humanitäre Grundsätze in den Verfassungsrang erhoben hat. Das ist in autokratischen oder gar theokratischen Staaten nicht gerne gesehen, wir müssen also wehrhaft sein.

Schon bisher war die Europäische Union viel besser als der Ruf, der ihr von überzeugungsschwachen nationalen Politikern, von Nationalisten und Separatisten angehängt wurde. Sie hat durch ihre Kooperationsidee den Frieden in Europa gesichert, hat uns ein europäisches Lebensgefühl gegeben, sie hat in den Wirtschafts- und Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte im entscheidenden Moment doch immer Handlungsstärke bewiesen – als EU oder als etwas kleinerer Euro-Währungsraum. Dass diese zwei Ebenen auseinanderfallen, ist einer der Konstruktionsfehler Europas.

Das Koalitionspapier zwischen SPD und Union dokumentiert nun das Bemühen, hier Einheitlichkeit herzustellen, jenseits gemeinsamer Wirtschafts- und Sozialpolitik auch in der Währungspolitik. Nicht eine weitere Verselbständigung des Euro-Regimes durch einen dort angesiedelten eigenen Haushalt und einen „Finanzminister“ sind zielführend, sondern ein durch einen parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds, der die Eurozone stärken, stabilisieren und reformieren wird und damit auch die EU insgesamt. Diese neue Autonomie, die uns vom Internationalen Währungsfonds weitgehend löst, kann auch für die EU-Mitglieder, die jetzt noch außen vor stehen, den Euro als Währung reizvoller machen. Sie lässt zudem die politische Rendite, die aus der Europäischen Union für alle Beteiligten erwächst, sichtbarer werden. Und sie zeigt, dass Brexit und Flüchtlingskrise nicht Ausgangspunkt für die weitere Zerstörung der europäischen Idee sind, sondern ihre Stärkung bewirken.

Volksentscheide – bitte nicht!

Unter den Arbeitsgruppen, die zur Formung einer möglichen Großen Koalition gegenwärtig tätig sind, erregt eine keine besondere mediale Aufmerksamkeit. Sie trägt das Etikett „Bürgerbeteiligung/Stärkung der Demokratie“, und soll die Stichworte „Volksinitiative, Volksbefragung, Volksentscheid“ abarbeiten, dann auch noch die „Arbeitsweise des Parlaments“.

Für den, dem unsere Demokratie am Herzen liegt, läuten da Alarmglocken. Volksentscheide? Davon kann man, nach allen Erfahrungen, nur dringend abraten und hoffen, dass sich die CDU und ihr Verhandlungsführer Michael Grosse-Brömer auf keinerlei bundesweite Experimente einlassen, nachdem SPD und auch die CSU hier in manchen Bundesländern und auch in Bayern schon weich geworden sind.

Denn Volksentscheide sind nichts anderes als eine Schwächung der repräsentativen Demokratie, des Abgeordnetenmandats und des Parlaments. Sie verkürzen komplizierte, normalerweise parlamentarisch zu klärende Sachverhalte auf (zu) einfache Entscheidungs-Alternativen. Auf diese Weise geraten solche Entscheidungen
in den Sog starker Emotionalisierung, mit der die vor solchen Plebisziten stattfindenden Kampagnen regelmäßig ausgestattet sind.

Wer aber hat Zeit, solche Kampagnen zu veranstalten und diese Emotionalisierungen ins Land zu tragen? Es sind Aktivisten mit Zeit, staatlich subventionierte Mitglieder von Nicht-Regierungs-Organisationen, Pensionäre, Staatsbedienstete. Die arbeitende Bevölkerung nimmt stark unterrepräsentiert sowohl an Wahlkampf wie an Abstimmung teil. Auf diese Weise wird eine asymmetrische Demokratie erzeugt, die dem Gleichheitsgedanken von Demokratie direkt widerspricht.

Volksabstimmungen sind auch feige. Zum einen können sich gewählte Abgeordnete dann ihrer beruflich eigentlich geforderten Gewissensentscheidung entziehen, für die wir sie gewählt haben und die die Substanz des Abgeordnetenmandats auch ausmacht. Bei Volksabstimmungen aber verstecken sie sich hinter „dem Volk“. Zum anderen aber gibt es keine Möglichkeit der Verantwortungs-Zuweisung mehr für die Folgen solcher Entscheidungen. „Das Volk“ ist, wenn die oft katastrophalen Folgen sichtbar sind (etwa beim „Brexit“), verschwunden. Wären eine ordentliche parlamentarische Debatte und Entscheidung vorausgegangen, dann stünden die Abgeordnete und ihre Parteien für die Folgen mit ihrem Namen ein.

Die problematischen Folgen solcher emotionaler Volksabstimmungen sind überall zu besichtigen: In Hamburg beim teuren Netzrückkauf oder bei der Ablehnung der Olympischen Spiele dort, in der Schweiz bei der rassistischen Ausländergesetzgebung, in Großbritannien beim Austritt aus der Europäischen Union – um nur einige Beispiele zu nennen.

Nein, Volksentscheide sind keine „Stärkung der Demokratie“, sie schwächen sie vielmehr. Darauf darf sich kein Abgeordneter mit Selbstbewusstsein einlassen.

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