20. April 2024

Für Europa: Wo bleibt die Kampfeslust?

Kritik an den gemeinsamen politischen Institutionen Europas hat Konjunktur. Nationalistische Parteien schlagen im Westen wie im Osten Profit aus der Behauptung, den Menschen im Heimatland werde durch die europäische Zusammenarbeit etwas weggenommen, sie müssten für andere Länder ungebührlich viel zahlen, deren Bürger fauler und undisziplinierter seien als man selbst.

Erstaunlich ist, wie gering die Gegenwehr jener ist, die es viel besser wissen. Als fürchte man, mit der Verteidigung Europas eine politische Unkorrektheit zu begehen, haben sich die Apologeten der europäischen Idee in einen Schmollwinkel zurückgezogen und die Lautsprecher den anderen überlassen. Die allgemeine Debattenlage erweckt den Eindruck, dass die Europa-Rede von Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gähnende Langeweile hervorruft, niemand kann sich offenbar vorstellen, wie schnell das alles verspielt werden kann. Dabei hätten beinahe alle Bevölkerungsgruppen Grund, für Europa auf die Straße zu gehen.

Der Existenz der Europäischen Union ist die historisch lange Phase des Friedens zu danken, mehr als 70 Jahre einer friedlichen Koexistenz. Muss man, damit das irgendjemandem in Europa ungewöhnlich erscheint, erst an die 50 Millionen Toten des 2. Weltkrieges erinnern oder an die 20 Millionen Opfer des 1. Weltkrieges, beide im letzten Jahrhundert?

Europa ist es auch, das in 19 EU-Staaten eine stabile Währung mit niedriger Inflation sichert. Der Euro ist, entgegen mancher Ansicht, ein immenses Erfolgsprogramm, das der Wirtschaft Transaktionskosten, allen Bürgern die Wechselkursrisiken und die Umtauschgebühren der Vergangenheit erspart.

Und natürlich ist die EU ein riesiger und erfolgreicher Binnenmarkt: Mehr als 500 Millionen Verbraucher und 21 Millionen Unternehmen profitieren davon – das ist weltweit der größte gemeinsame Markt mit freiem Waren- , Dienstleistungs-, Kapital und Personenverkehr. Auch unsere holprige Energiewende können wir uns nur leisten, weil es einen europäischen Energiemarkt gibt, der versorgungssichernd Schwankungen ausgleicht und der es uns erlaubt, unsere Strom- und Gasversorger europaweit frei zu wählen.

Die Vorteile gehen weiter: Mehr als 12 Millionen landwirtschaftliche Betriebe in der EU profitieren von einer gemeinsamen Agrarpolitik, um die 500 Millionen Menschen zuverlässig mit sicheren und preiswerten Lebensmitteln zu versorgen. Und auch die sonstige Verbraucherschutzpolitik bietet europaweit Sicherheit.

Die Studenten Europas könnten sich über eine Bildungspolitik freuen, die ihnen internationale Erfahrung schenkt: 550 000 Stipendien und Zuschüsse für Studenten, Auszubildende und Jugendliche allein aus Deutschland bietet das EU-Bildungsprogramm „Erasmus“, eine Riesenchance für die persönliche und berufliche Entwicklung.

Umweltpolitik – ohne die Europäische Union wären ihre bisherigen Erfolge gar nicht denkbar. So liegen heute 90 Prozent weniger Blei in der Luft als noch vor 20 Jahren, 26 000 Naturschutzgebiete bedecken 18 Prozent der EU-Fläche, 85 Prozent der Badegewässer der EU haben ausgezeichnete Wasserqualität, die Treibhausgase wurden seit 1990 um 20 Prozent reduziert bei gleichzeitigem 45-prozentigem Wirtschaftswachstum.

Bleibt die Innere Sicherheit: Organisierte Kriminalität, Terrorismus, illegale Migration und die Schlepperbanden kann man nur grenzüberschreitend und gemeinsam bekämpfen, dafür braucht es eine europäische Grenz- und Küstenwache. Und die Sicherheit des Kontinents wird auch künftig nur durch gemeinsame militärische Anstrengungen garantiert werden können, weit über das bisherige Maß hinaus.

Alles europäische Pluspunkte. Blickt man in die Zukunft, ist eine enge – ja: noch engere – Zusammenarbeit im Europäischen Staatenverbund unumgänglich, wenn Europa nicht zum Spielball eines neoimperialistischen Präsidenten in Russland, einem nicht sicher zurechnungsfähigen kommenden US-Präsidenten, einem anspruchsheischenden China und anderen aufkommenden Mächten werden will. Sie wollen Europa intrigant spalten, um darüber zu herrschen. Die kommenden Jahre werden für uns gefährlich.

Es ist hohe Zeit, dass die Europäische Kommission und die europageneigten Politiker in Deutschland die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema eines gemeinsamen Europa nicht mehr seinen Gegnern überlassen, sondern sich mit den medialen Mitteln unserer Zeit und in verständlicher, anschaulicher, volksnaher Sprache massiv für die europäische Idee einsetzen – ohne Wenn und Aber.

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