19. April 2024

Musik als Gegenwelt

Zwei Welten in einer, die Gleichzeitigkeit des Ungleichen: Terror hier, Musik dort. Diese Tage sind nicht nur Tage der Angst und des Schreckens, es sind auch solche der Hochkultur in Deutschland. Zahllose Musikfestivals – es sind mehr als 500 – geben unserem Land ein schönes Sommer-Gesicht, vom Norden mit seinen Konzertreihen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bis in den Süden nach Bayern und Baden-Württemberg.

Und in der Mitte Deutschlands, seinem Herzen sozusagen, haben in Bayreuth soeben die jährlichen Wagner-Festspiele begonnen, die unermüdlich und in immer neuen Inszenierungen die letzten zehn Opern Richard Wagners präsentieren. Ein kontinuierliches Faszinosum um einen Komponisten und Schriftsteller, der geniale Musik, Geschichtsmythen, Ideologien von Sieg und Niederlage und eschatologische Fragestellungen um Tod und Verklärung in seinem Werk zu vereinen wusste und der dem nationalbewussten 19. Jahrhundert seine wesentliche musikalische Prägung gab. Wagner geistige Gestalt, fand Thomas Mann, „ist leidend und groß, wie das Jahrhundert, dessen vollkommener Ausdruck sie ist.“

Diesmal begann Bayreuth mit dem „Parsifal“. Das ist, beim deutschesten aller Komponisten, kein schlechter Einstieg. Auch diese Neuinszenierung wird Diskussionen auslösen, optimaler Weise wird es Ärger geben, einen kleinen Skandal unter skandalfreudigen Journalisten vielleicht, wie immer, das gehört zu Bayreuth wie die harten Theatersitze. Parsifal aber ist ein Mensch auf der Suche nach einem erlösten Leben, ein religiöses Sujet also, eine weihevolle Sache, wie so oft bei Wagner. Dieses Lebens-Libretto ist immer aktuell, seit 140 Jahren nun, in denen es die Bayreuther Festspiele gibt, und Religionsfragen sind es auch, die die Spannungen dieser Tage nähren.

Bayreuth wie auch alle anderen Festspiele in Deutschland melden ausverkaufte Säle und Parks, die Menschen kommen in Strömen. Sie lassen sich nicht unterkriegen, von ihren Ängsten nicht und auch nicht von den Sicherheitsmaßnahmen, die überall erhöht sind. Denn das Leben geht weiter. Musik gibt ihm einen Sinn, sie spricht die Seelen der Menschen an, sie baut ein Gegenüber zur beladenen realen Welt, eröffnet eine zusätzliche Dimension der Existenz, vielleicht auch eine Ahnung vom Jenseits, auf die schon Herbert von Karajan hoffte: „Im Himmel ist nur Musik.“

Und der Philosoph Theodor W. Adorno, ein begnadeter Musiktheoretiker, notierte: „Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, dass es ihnen gelang, sich dem Dasein abzutrotzen.“ Und, möchte man ergänzen: Tröstlich ist auch, dass so viele Menschen in unserem Lande das zu schätzen wissen.

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