18. April 2024

Mein Schachtelhalm und die Ukraine

Mit der territorialen Integrität meines Gemüsegartens ist es nicht weit her. Von links und rechts überfallen Schnecken meine Salate. Von unten reckt sich der Schachtelhalm aus dem Boden, in meinem Fall der Equisetum arvense, der gemeine Ackerschachtelhalm. Wenigstens handelt es sich nicht um die Art „giganteum“, der wird nämlich zwei Meter hoch.

Ausgraben hilft ja nicht viel, das Wurzelgespinst sitzt metertief. Gift ist bei mir verboten. Also kapitulieren? Kurz habe ich überlegt, dem kieselsäurehaltigen Ackerschachtelhalm meinen ganzen Garten zu überlassen. Produziert man daraus Jauche oder Tee, kann man damit andere Pflanzen düngen oder Läuse vertreiben. Auch als Arznei ist der Arvense-Schachtelhalm geschätzt: ein harntreibendes Mittel sowie bei Rheuma, Entzündungen, Nierenleiden, Harngrieß. Der Pfarrer Kneipp hat behauptet, man könne Blut, Magen, Nieren und Blase damit reinigen und außerdem Ausschlag und Wunden. Also: Die Verletzung der Souveränität meiner 100 Quadratmeter Gemüsebeete einfach hinnehmen und die Sache kommerzialisieren?

Nein, man hat ja noch Prinzipien. So, wie die Ukrainer darauf bestehen, dass man ihnen nicht so einfach ein Stück ihres Landes klauen kann und sie die Krim zurückhaben wollen, so bestehe ich darauf, in meinem Gemüsegarten weiterhin Kohlrabi, Tomaten oder Gurken anbauen zu dürfen.

Wie ich darüber so nachdenke, erreicht mich ein Anruf eines Kollegen der ZEIT: Ich sei eine Gefahr für die Integrität des ukrainischen Staatsgebietes und dürfe dort nun nicht mehr einreisen. Ich? Ich für die Ukraine, was der Schachtelhalm für meinen Gemüsegarten ist? Vertreibung allerorten?

Kurz darauf weitere Anrufe: Spiegel, dpa, ARD Hörfunk Moskau, Deutsche Welle, Deutschlandfunk, FAZ. Also nehme ich die Sache ernst. Und tatsächlich: Herr Poroschenko hat 400 Menschen von der künftigen Einreise in sein Land ausgesperrt, auch mich. Viele Russen sind darunter – das kann ich noch verstehen, er ist wegen der Annexion der Krim nachhaltig böse. Aber wie kommt er auf mich?

Ich bin noch nie in der Ukraine gewesen. Einmal habe ich für ein Kinderheim in Kiew eine größere Summe Geldes organisiert, weil dort wirklich gebeutelte Kleine wieder sozialisiert werden sollten und Geld fehlte für die Fertigstellung. Die Annäherung der Ukraine an die EU hat mich gefreut, denn es ist ja altes europäisches Kernland. Als die Russen wider alles Völkerrecht die Krim okkupierten, habe ich die Annexion auch so genannt, ohne Wenn und Aber. Wie also kommt man in Kiew ausgerechnet auf mich? Vielleicht, weil ich schon öfter in Russland war?

Vielleicht muss man nachsichtig sein. Demokratie lernt sich nicht schnell, und Meinungsfreiheit auch nicht. Journalisten auf Sanktionslisten zu setzen ist – will man in die EU – nicht nur eine Dummheit, sondern sogar ein Fehler. Das zu erkennen hat bei Präsident Poroschenko zwölf Stunden gebraucht. Am Nachmittag wurde die Liste gekürzt, um die Namen der Journalisten darauf. Nun darf ich wieder einreisen. Vielleicht ruft mich ja der ukrainische Botschafter an und lädt mich ein. Ich bringe ihm dann einen Strauß Equisetum arvense mit. Ich versichere ihm: Dieser kann eine größere Bedrohung für die Integrität ukrainischen Territoriums darstellen als ich dies je vermöchte.

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt 23.9.2015)

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