16. April 2024

Mein Morgen Land. Brief an die Kanzlerin, 10

Liebe Frau Merkel,
 
Sie wissen, wenn  Sie ganz ehrlich sind, auch nicht genau, wie das mit dem Euro ausgeht. Überall ist ein erschreckender Mangel an Expertise, oder – andersherum: Die Finanzsysteme sind uns über den Kopf gewachsen, mit ihrem Verschuldungswahn haben die Politiker allerorten die Büchse der Pandora geöffnet, keiner weiß nun, wie man sie schließt. Die Menschen auf dem Lande besinnen sich dann der schlechten Zeiten: Es zählt nur, was man auf der eigenen Scholle anbauen kann. Deshalb steigen wie überall auch bei uns in der Lüneburger Heide die Preise für Ackerland. Ein Feld, das vom Bauerwartungsland weit entfernt ist, wechselte eben für vier Euro pro Quadratmeter den Besitzer.
 
Verrückte Zeiten. Ich habe mir ein Lieblingsbuch meiner Jugend aus dem Schrank geholt, „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ von John Seymour. Mit einem Morgen Land, das sind etwa 2500 Quadratmeter, lässt sich schon viel anfangen. Die eine Hälfte kann man als Grasland für eine Kuh, eine Ziege (für die Zeit, wenn die Kuh trocken ist), für die Aufzucht einer Sau und ein Dutzend Hühner nutzen. Die Kuh kommt ans Spannseil, Schweinestall und Hühnerschlag werden beweglich eingerichtet, um das Gelände optimal zu nutzen. Den anderen halben Morgen nimmt man zum Anbau von Früchten und Gemüse her: für eine Vielzahl von Kohl- und Rübensorten für den eigenen Verzehr und für die Fütterung, außerdem verschiedene Erbsen und Bohnen, Kartoffeln, Porree, Zwiebeln, Karotten, Sonnenblumen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Himbeeren, Rhabarber und Salate. Und einen großen Kräutergarten. Platz für ein Gewächshaus, für einen Werkzeugschuppen und einen kleinen, festgebauten Kuhstall ist auch noch. Man muss dann einem strikten Fruchtwechsel folgen, muss Gras- und Fruchtflächen auswechseln, muss melken, Käse herstellen, Obst und Gemüse einwecken und auch mal ein Huhn oder ein Karnickel schlachten oder einen Fisch ausnehmen können. Auch ein Jagdschein schadet nicht.
 
Ja, der eigene Acker, der eigene Wald: Darüber reden die Menschen hier, gerade am vergangenen Wochenende. Denn während Sie in Brüssel den Euro retteten, war in Egestorf „Kram- und Viehmarkt“, der schon vor 600 Jahren die Welt in die Nordheide brachte. Die Krämer importierten ja nicht nur den Jahresbedarf an Strick- und Töpferwaren, sondern auch die Nachrichten und Gerüchte von anderswo. Aber alles blieb unaufgeregt, von den Medien-Bazookas heutigen Kalibers wusste man nichts.
 
Ich verfüge nicht über einen ganzen Morgen Land, habe keine Kuh und kein Schwein. Aber die Salate sind gut geworden dieses Jahr, die Zucchinis auch, die Beeren, die Rote Bete, die Erdbeeren, auch die Marmelade daraus, während Äpfel, Pflaumen und Tomaten misslangen. Demnächst baue ich ein Gewächshaus auf, damit ich die Pflanzen in der kommenden Saison vorziehen kann. Und auch ein kleines Windrad wäre schön, sozusagen mein Merkelröttgen-Rad als Tribut an Ihre Energiewende.
 
Idyllisch? Ja, aber besser wäre es, Ihnen gelänge die Euro-Rettung, dauerhaft. Ich habe nämlich keinen „grünen Daumen“.(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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