26. April 2024

Kinder als Opfer der Bildungsreformen: Brief an die Kanzlerin, 8

Liebe Frau Merkel,
 
jeder wird verstehen, dass Sie in diesen Tagen anderes im Sinn haben als Bildungspolitik. Aber während Sie sich mit Griechenland herumschlagen und der viel bedeutsameren Frage, wie man Europa insgesamt rettet, geht der normale Alltag weiter. Zum Beispiel müssen Kinder jeden Tag zur Schule, und sie und ihre Eltern erleben dort jeden Tag neue wundersame Geschichten eines ideologieüberfrachteten Bildungssystems.
 
So ist es schon seit Jahren nicht mehr Pflicht, ordentlich schreiben zu lernen. Die Einübung verbundener Buchstaben, der „Schönschrift“ , hat ausgedient. Wer unter den Pädagogen in den Lehrerzimmern darauf noch Wert legt und nicht fassen will, dass man den Kindern eine unsortierte Handschrift mit auf den Lebensweg gibt, wird ausgelacht: Das brauche man nicht mehr. Es reiche, wenn die Kinder Druckbuchstaben sauber aneinanderreihen könnten, das sei ein „barrierefreier Zugang“ zum Schreiben.
 
„Barrierefrei“ soll auch die Rechtschreibung daherkommen. Geschützt werden müssten schließlich jene Kinder, die bildungsfernen Schichten entstammen. Ihnen müsse man das Gefühl geben, dass gesellschaftliche Anerkennung und Erfolg von mangelhafter Rechtschreibung nicht getrübt werden. Einer Bekannten von uns wurde von der niedersächsischen Grundschullehrerein eines ihrer Kinder tatsächlich mitgeteilt, die Kinder müssten vor allem dem Umgang mit den Rechtschreibprogrammen der Computer sauber lernen, die machten ja alles von selbst.
 
So vollzieht sich der Niedergang unserer Bildung in kleinen Schritten. Beim Verlust einer ordentlichen Schreibschrift, beim Verzicht auf die Durchsetzung der Orthografie bleibt es ja nicht. Zugleich werden die Lehrpläne so umgestellt, dass im Mittelpunkt nicht die Förderung der Wissbegierigen und Leistungswilligen steht, sondern die Förderung der weniger  Begabten. Und unter dem vernebelnden Schlagwort der „Inklusion“ werden jetzt auch geistig behinderte Kindern aus ihrer hilfreichen Sonderförderung in normale Schulklassen integriert, weil sie dort angeblich besser lernten und sich ihrer Behinderung weniger bewusst würden. Das Gegenteil ist der Fall, und zudem sinkt das durchschnittliche Leistungsniveau weiter.
 
Die Kinder, die es trotz Rechtschreibschwächen dennoch aufs Gymnasium schaffen , sind dort nun einer nur noch achtjährigen Ausbildung ausgesetzt. Das war nur möglich, indem man die Lehrpläne „entrümpelte“. Dem fiel zum Opfer, was man nicht dringend zum täglichen Existenzkampf braucht: Geschichte, Deutsch, Musik, alles Müll. Schneller weniger lernen – und alles möglichst barrierefrei. Es versteht sich von selbst, dass in einigen Bundesländern das „Sitzenbleiben“ abgeschafft wurde, oder dass Noten als ungebührliches Repressionsmittel in Zeugnissen der Grundschule pädagogisch nicht mehr beliebt sind. So geht es dann zur Universität, auch sie verkürzt auf den Bachelor-Studiengang, damit ein jeder einen Universitäts-Abschluss schaffe.
 
Das alles ist eine Fehlentwicklung. Und die Menschen möchten wissen, was die die Kanzlerin und die CDU dagegen unternehmen.Herzlich IhrMichael Rutz

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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