24. April 2024

Tradition als neue Moderne? Brief an die Kanzlerin, 7

Liebe Frau Merkel,
 
dieser Tage flatterte eine Einladung ins Haus: „Angela Merkel kommt!“, steht darauf. Sie werden also am 1. September um 17 Uhr auf dem Schlossplatz in Winsen an der Luhe (am Rande der Lüneburger Heide) reden, denn in Niedersachsen sind demnächst Kommunalwahlen. Es handelt sich ausweislich der Ankündigung um eine „Open-Air-Veranstaltung“, ab 16 Uhr ist Vorprogramm.
 
Ihr Auftritt soll der CDU Stimmen bringen, vor allem auch dem (sehr netten) CDU-Kreistags-Spitzenkandidaten namens Necdet Savural, „unser Kandidat mit türkischen Wurzeln“.  Schon das müssen Sie den Heidjern hier wirklich zweimal erklären, die in ihrer Bodenständigkeit eher zu Kandidaten mit deutschen Wurzeln neigen. Aber da sind noch zwei weitere Probleme. Zum einen traut sich die CDU bei vielen zu vergebenden Bürgermeisterposten den Erfolg eines eigenen Kandidaten nicht mehr zu und unterstützt gemeinsam mit SPD, FDP, Grünen oder Freien Wählern „unabhängige“ Personen, die vielerorts geschrumpfte CDU kann sich nur auf diese Weise noch Einfluss sichern. Ein Kreuzchen bei der CDU ist also gar nicht immer möglich. Und: Warum überhaupt sollte man sie wählen? Wenn man das gefragt werde – so hat die CDU im Landkreis Harburg ihren Mitgliedern geschrieben – dann könnten  sie antworten: „Wo die CDU regiert, geht es den Menschen besser.“ Denn von den elf niedersächsischen Landkreisen mit Vollbeschäftigung würden zehn eine CDU-Mehrheit im Kreistag aufweisen.
 
Das wird stimmen. Aber das Argument bleibt dennoch dürftig. Solide wirtschaften können andere auch: die FDP, die SPD, die Grünen. Das haben sie in ihren besten Zeiten auch schon bewiesen, manchmal (wie in Bremen oder Berlin) auch das Gegenteil. Und dass die CDU in puncto Wirtschaftskompetenz gut abschneidet, erwarteten wir sowieso, wenngleich die ordnungspolitische Verwirrung innerhalb der CDU (wir erinnern uns an die Opel-Subventionen oder die Rüttgers-Demos gegen Nokia) bereits stark zugenommen hat und sie energiepolitisch mit Deutschlands Wirtschaft gegenwärtig Vabanque spielt.
 
Wieso also CDU wählen? Sie steht (Danke, Frau Merkel!) unbeirrt für klaren, notfalls solidarischen  Europa-Kurs, und Sie haben dafür gute Argumente (siehe: http://www.kas.de/wf/de/33.23662/).  Immer galt als zudem als ausgemacht, dass die CDU vor allem für die 50 Millionen Christen in Deutschland eine politische Heimat sein wollte und für eine christlich begründete, freie Gesellschaft focht. Das ist so klar nicht mehr, seit die CDU machtpolitisch nach allen Seiten schielt (das sieht, um beim Bild zu bleiben, übrigens nicht schön aus), die Muslime (zu Recht) als Stimmreservoir entdeckt hat und das Christliche deshalb (zu Unrecht) relativiert. Auch war sie Garant einer Familienpolitik, in der die Ehe besondere Förderung genoss und eine Kindererziehung privilegiert war, die die Eltern selbst vornahmen. Die Signale der finanziellen Förderung der CDU aber galten zuletzt eher berufstätigen Eltern, deren Kinder tagsüber in staatliche Obhut gelangen. Des Weiteren: Die CDU stand für eine solide Bildungspolitik – hat aber die Rechtschreibreform oder das 12jährige Gymnasium ebenso schnell mitgemacht wie sie bei Koalitionen in den Ländern das Bildungsressort mit Vorliebe an den jeweiligen Partner abgibt.
 
Die Antwort auf solche Einwände lautet meist: Die Gesellschaft hat sich eben geändert. Mahner werden als rand- und rückständige Konservative abgetan. Das mögen die Niedersachsen nicht, und ihre Sache sind auch nicht schnelle Überzeugungs-Volten je nach Machtlage. Noch ist ja auch nicht ausgemacht, ob nicht das Tradierte zur neuen Moderne mutiert. Wenn Sie also in Winsen reden: Bedenken Sie das, damit die Wahlenthaltung nicht noch steigt.Stets IhrMichael Rutz

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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