27. April 2024

Weiter nach Europa. Brief an die Kanzlerin, 3

Liebe Frau Merkel,

Sie waren dabei, als vor ein paar Tagen Helmut Kohl in der Berliner American Academy den „Kissinger-Prize“ bekam. Den frisch gebackenen Vizekanzler Rösler hatten Sie mitgebracht. Und um Sie herum saßen Bill Clinton, Henry Kissinger, Weltbank-Chef Robert Zoellick, US-Botschafter Murphy – und Hunderte von Gästen, die Helmut Kohl für seinen Beitrag zur Wiedervereinigung und zur Formung Europas ehren wollten, wie Sie das auch in Ihren Worten taten: „Ohne die Wiedervereinigung stünde ich nicht hier“, haben sie gesagt. Und alle, die im Festzelt am Wannsee saßen, waren davon überzeugt, dass dieses geeinte Deutschland stark in der Europäischen Union und die fest im atlantischen Bündnis verankert sein muss.

Die Sorge, dass sich das geändert haben könnte, stand im Raum, und sie richtete sich an Sie, Frau Bundeskanzlerin: Deutschland führt nicht in Europa, das überlassen wir neuerdings Frankreich. Aus dem atlantischen Bündnis sind wir beim gebotenen Einsatz in Libyen ausgeschert. Und US-Präsident Obama macht bei seiner Europa-Tournee um Deutschland einen Bogen. Dabei weiß jeder: Ohne Europa wird Deutschland künftig schwach. Und ohne ein einiges Europa wird es diesem Erdteil im Kräftemessen zwischen den USA, China, Indien und Südamerika ebenso gehen. Und ohne die USA wird nicht nur der Gedanke der Freiheit als Grundlage des kreativen Fortschritts leiden, Europa wird auch rasch isoliert sein.

Dass dieser Abend am Wannseeufer eine geschichtliche Lehrstunde wurde (über die sogar die New York Times und der International Herald Tribune, kaum aber deutsche Medien berichtet haben), lag an exzellenten Reden.  Robert  Zoellick, der an der Seite George H.W. Bushs den Prozess der deutschen Wiedervereinigung begleitet hatte, beschwor Sie: „The Atlantic must be a bond, not a barrier“, und er sagte auch: „Decisive moments are fleeing“ – der Atlantik muss verbinden, nicht trennen, und: historische Chancen sind flüchtig.  Bill Clinton rühmte Kohl dafür, dass er in den entscheidenden Momenten alle Fragen im Sinne aller Beteiligten richtig beantwortet hat, und so Deutschlands Einheit, Europas Freiheit und den weltweiten Siegeszug der Idee der Freiheit ermöglichte: „Never take this for granted“, mahnte er, „and never squatter his legacy.“ Da meinte Clinton alle jene, vor allem außerhalb der Festversammlung, denen jede europäische Leidenschaft abgeht. Die Europa weniger als Idee, sondern als Zweckmäßigkeitsbündnis betrachten, das man auflösen kann, wenn der Nutzen nicht mehr offenkundig ist.

Helmut Kohls Leidenschaft ist da ungebrochen, und an jenem Abend spürte man das, als er mit schleppender Stimme, aber klarem Kopf seine Zuhörer beschwor, weiterzubauen an der Leiter Europas. Man solle nicht auf Stimmungen hören („Wenn wir 1989 in der alten Bundesrepublik abgestimmt hätten, wäre ich mir  des Ausgangs nicht sicher gewesen“), man müsse Stolz entwickeln auf die Wurzeln Deutschlands und Europas, Deutschland dürfe in Europa „nicht auf die anderen warten, sondern müsse „an die Spitze“.  Und schließlich sagte Kohl: „Wer glaubt, man könne neu anfangen, der täuscht sich. Wir müssen den Weg weitergehen, so schwer er auch sein mag.“

Ich weiß nicht, verehrte Frau Bundeskanzlerin, wie Sie den Abend empfanden. Aber selbst, wenn man alles Hagiographische, das solchen Anlässen eignet, abzieht: Er verwies doch auf die schwierige Lage Europas und des westlichen Bündnisses, die vor allem sozialdemokratisch geführte Regierungen (etwa in Griechenland, aber auch die ihres Vorgängers Schröder) uns eingebrockt haben und die überproportionale Überzeugungsanstrengungen bei den Bürgern in der EU notwendig macht. Und damit richtete sich der ganze Abend eigentlich an Sie.

Ein starkes Deutschland in einem starken Europa – das ist Ihre Aufgabe, vor allem angesichts der Schwäche unseres Außenministers. Sie bestimmen die Richtlinien der Politik.

Herzlich
Ihr
Michael Rutz
(Erschienen am 29.5.2011 in Christ und Welt/ DIE ZEIT)


Der belagerte Bürger

Nun auch noch Bremen. Die Union reiht eine dramatische Wahlniederlage an die andere, und die Verunsicherung in der Parteispitze ist komplett. Verzweifelt werden die Ursachen gesucht, und gefunden hat man offenbar die Kernenergie: Ganz schnell raus, das wolle der Bürger, der großstädtische zumal, und an der Ausstiegsgeschwindigkeit werde die CDU gemessen. Also versucht sie die Grünen – die schmunzelnd zuschauen – mit immer neuen Daten zu überbieten, und zur argumentativen Begleitung der plötzlichen Energiewende hat man sich ausgerechnet einen Ethikbeirat zugelegt: als wäre es Sache eines Bischofs, über den letztlich physikalischen Befund zu urteilen, ob ausreichende alternative Energiequellen für das Industrieland Deutschland zur Verfügung stehen.

Die Beobachtung, dass die Kernenergienutzung in Deutschland nie eine freundliche Mehrheit unter der Bevölkerung hatte, ist richtig. Nur haben die Menschen stets mehr als die Kernkraft einen Zustand gefürchtet, in dem Energie knapp und teuer werden würde und die Kontinuität der Energieversorgung und damit der Arbeitsplatzbestand gefährdet ist. Dieser Zustand wird jetzt erreicht.

Von allen Seiten werden wir vor auftretender Energieknappheit gewarnt. Es sind Fachleute, die da warnen: Von den Energiekonzernen, von der OECD, von der Bundesnetzagentur. Aber die CDU und ihr wendischer Umweltminister Röttgen neigen dazu, das alles für interessensgeleitete Panikmache zu halten. Derweil spüren die Bürger die Preisanstiege auf der Energierechnung und sie beobachten, mit welcher Intensität die von ihnen gewählten Politiker daran arbeiten, diese Kosten für den Bürger weiter in die Höhe zu treiben: Zehntausende von Euro soll jeder Wohnungsbesitzer demnächst in Dämmungen und Solarmodule investieren. Einen Ausweg über den Import billigen Stroms aus dem Ausland darf es auch nicht geben, arbeitet doch der Ex-Staatssekretär Otremba gerade am Modell einer Stromimportsteuer, damit die Preisaufschläge auch garantiert saftig bleiben.

Hier wie an anderer Stelle hat der Bürger jener Schicht, die nicht von Staatszuwendungen lebt, das Gefühl, die Politik habe sich gegen ihn gewendet: Preissteigerungen überall. Energie, Krankenversicherung, Rentenbeiträge, staatliche Gebühren und Abgaben, die Steuern sowieso, die mit jedem Inflationsprozent steigen, da sich diese bürgerliche Regierung beharrlich weigert, die „kalte Progression“ durch eine Tarifkorrektur zu glätten dafür aber an anderer Stelle, etwa bei Immobilienbesitz, fiskalisch härter zugreift.
Zugleich muss man beobachten, wie leichtfertig mit unserem Steuergeld umgegangen wird, im eigenen Land und in Europa. Dabei wäre nichts als Sparen angesagt, viel fehlt ja nicht, und wir geraten angesichts unserer riesigen öffentlichen Verschuldung auf die gleiche abschüssige Bahn, auf der sich Portugal, Griechenland, Spanien und nun auch Italien sich befinden. Vor allem bräuchte es Führung, der man sich ja dann anvertrauen möchte. Aber davon ist nichts zu sehen, im Inland nicht und auch nicht in der Außenpolitik, deren Schicksal wir in Europa und darüber hinaus gegenwärtig andere und oft schwache Figuren wie Frau Ashton gestalten lassen, Deutschland ein Land der Enthaltung, der Unentschlossenheit, des Nachzügelns, der Verbeugung vor Stimmungen.

Das Problem des bürgerlichen Wählers ist damit umschrieben: Nichts gibt ihm Halt. Er fühlt sich rundum belagert. Während sich die Linke in Deutschland an immer neuen staatlichen Transferleistungen freut und während die Grünen an den Randbedingungen einer straßenprotestgeneigten Ökodiktatur basteln, hat die CDU für ihre Klientel nichts mehr übrig. Ihre Wähler beobachten lemminghaften Populismus, meist zum finanziellen Nachteil der steuerzahlenden, leistungsbereiten Menschen. Sie beobachten, dass sich plötzlich alles um einen imaginären „Großstadtbürger“ und dessen vermutete Interessen dreht, sehen ihre wieder modernen konservativ-bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Anstand, Benehmen, Familie vernachlässigt und fühlen sich,  wenn sie (wie die Mehrheit der Deutschen) ausserhalb von Großstädten leben, missachtet.  

Noch werden die Folgen für die Union (auch in der CSU hat diese hysterische Umwertung aller Werte Platz gegriffen) milde bedeckt von einem maßvollen Aufschwung mit vergleichsweise bescheidenen Wachstumsraten, die zudem durch künstlich niedrig gehaltene Zinsen erkauft wurden. Der Hinweis darauf zügelt auch jene Unruhe, die in den Rängen der CDU längst Platz gegriffen hat, weil die Abgeordneten aller Parlamente, vom Bundestag zu den Landtagen, von den Kreis- zu den Gemeinderäten, um ihre Posten fürchten, weil Bürgermeisterämter sonder Zahl verlorengehen. Aber diese Wachstumszeiten werden vorübergehen, die Zinsen werden und müssen steigen, da die Geldentwertung sie schon überholt. Die Wirtschaft wird dann wieder schwächer, die Energie teurer, die Steuer- und Abgabenlast größer – und dann wird die CDU inhaltlich und personell abgenagt dastehen, wenn sie nicht originäre Antworten findet auf die Frage, warum man sie eigentlich wählen soll. Als Antwort wird der Hinweis, dass es eine bürgerliche Alternative zu ihr (noch) nicht gibt, nicht ausreichen.

(Erschienen am 24.5.2011 in Christ und Welt/ DIE ZEIT)

Europa-Genöle – Brief an die Kanzlerin, 2

Liebe Frau Merkel,

Sie sind, wie könnte es anders sein, eine überzeugte Europäerin. Nicht erst bei Helmut Kohl haben Sie gelernt, dass der Zusammenhalt Europas die Straße zum Frieden pflastert, Streit aber den zu Mißerfolg und Krieg. In der nächsten Dekade werden sich Europas Anteil am Welthandel und auch sein Anteil an der Weltbevölkerung beinahe halbieren. Hätten wir dann nicht unsere Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft und eine ganz enge politische Kooperation – wir wären nichts, die Weltgeschichte würde über die einzelnen Staaten Europas hinwegmarschieren. Und auch der deutsche  Export – eben haben wir wieder neue Rekordzahlen vernommen – würde derart beschädigt, dass die Arbeitslosenzahlen wieder kräftig wüchsen.
 
Wir müssen Europa also schon aus ganz realistischen, ja: materiellen Gründen mögen. Europa aber  ist mehr: eine Wertegemeinschaft, die der Welt nach manchen Irrwegen den Gedanken der Freiheit und den der Demokratie gegeben hat; ein gewachsener Kulturraum, der die Geisteswelt des Abendlandes in Literatur, Musik, Philosophie bis heute prägt; der Ursprung der Zivilisation, ein Vorbild und Sehnsuchtsort für so viele Menschen in der Welt. Europa ist so Vieles, auf das man stolz sein kann.

Nur: Von diesem Stolz spüren wir Bürger wenig. Regierungsamtlich wird uns Europa immer nur sorgenzerfurcht serviert, als Last und bürokratisches Monster, über das man nur mit trübem Blick reden kann, auch deshalb, weil so viele andere Europäer uns deutschen „Zahlmeistern“ das Geld aus der Tasche ziehen wollen. Kein Wunder, dass auch immer mehr Deutsche europaskeptisch werden. Auch Sie selbst, verehrte Frau Bundeskanzlerin, lassen bei diesem Thema das blitzende Charisma, zu dem sie ja fähig sind, völlig vermissen. Immer argumentieren Sie und Ihre Kabinettskollegen aus der Defensive heraus, weil sie alle glauben, sich gegen maue Demoskopie-Ergebnisse oder miesepetrige Journalisten verteidigen zu müssen.

Das müssen Sie überhaupt nicht. Auch nicht dann, wenn es im Euro kriselt wegen noch unsoliderer Volkswirtschaften als wir es selbst sind. Ganz offenkundig mussten die Dinge erst schlimmer kommen, damit sie besser werden können: Und nun haben wir alle begriffen, dass es ins Chaos führt, wenn man auf Dauer mehr ausgibt als man einnimmt. Endlich kehrt – und darauf müssen Sie weiter dringen – solides Gebaren ins europäische und nationale Haushalten ein. Auch wir selbst haben mit unserer Billionen-Verschuldung da noch genug zu tun.

Jean-Claude Juncker, der luxemburgische Premier und Chef der Euro-Gruppe, kann begeisternd über Europa reden.  Er sagt dann Sätze wie: „Europa ist die Liebe meines Lebens“, und wenn er nach einer Europa-Rede vom Podium steigt, sind die Leute so hingerissen, dass sie unbesehen und in großen Summen Euro-Bonds zeichnen würden, wenn es sie gäbe. Aus einem Europa-Saulus macht er im Handumdrehen einen Paulus, und jeder im Saal fühlt sich berührt von der Größe der europäischen Idee.

Warum ist bei uns die Regierungs-Kommunikation zu Europa so schmallippig? Warum lassen Sie, Frau Merkel,  es zu, dass die Henkels und Sinns dieser Welt Europa zerreden dürfen, ohne bei ihrer Alternativlosigkeit ertappt zu werden? Warum müssen wir uns das Europa-Genöle in deutschen öffentlich-rechtlichen Fernseh-Talkshows anhören, ohne dass die Regierung als unser Europa-Motor dem etwas entgegensetzt? Auch dafür sind Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, ja gewählt: Die Menschen von den Voraussetzungen für eine gute Zukunft Deutschlands und Europas zu überzeugen.

Jetzt zum Beispiel wäre es nicht schlecht, sie würden – wie seinerzeit Bayern-Trainer Trapattoni – einmal aus der Haut fahren, wenn sich Finanzmärkte und Journalisten einen Spaß daraus machen, Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und damit den Euro und Europa in immer größere Krisen hineinzureden. Bad news are good news, man kann an ihnen verdienen. Aber am Ende des Tages zerstört diese Attitüde, die sich mit journalistischem Ethos schon gar nicht erklären lässt, alle guten Seiten Europas, die ganze schwer erarbeitete Solidität unserer politischen und wirtschaftlichen Existenz.

Das würde ich mir wünschen: dass Sie sich, Frau Bundeskanzlerin, zu diesem Thema einmal richtig in Rage reden und all den leichtfertigen Besserwissern und Krisengewinnlern übers Maul fahren. Argumente hätten Sie genug.

Herzlich
Ihr

Michael Rutz(Erschienen am 9.5.2011 in Christ und Welt/ DIE ZEIT)

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