26. April 2024

Weiter nach Europa. Brief an die Kanzlerin, 3

Liebe Frau Merkel,

Sie waren dabei, als vor ein paar Tagen Helmut Kohl in der Berliner American Academy den „Kissinger-Prize“ bekam. Den frisch gebackenen Vizekanzler Rösler hatten Sie mitgebracht. Und um Sie herum saßen Bill Clinton, Henry Kissinger, Weltbank-Chef Robert Zoellick, US-Botschafter Murphy – und Hunderte von Gästen, die Helmut Kohl für seinen Beitrag zur Wiedervereinigung und zur Formung Europas ehren wollten, wie Sie das auch in Ihren Worten taten: „Ohne die Wiedervereinigung stünde ich nicht hier“, haben sie gesagt. Und alle, die im Festzelt am Wannsee saßen, waren davon überzeugt, dass dieses geeinte Deutschland stark in der Europäischen Union und die fest im atlantischen Bündnis verankert sein muss.

Die Sorge, dass sich das geändert haben könnte, stand im Raum, und sie richtete sich an Sie, Frau Bundeskanzlerin: Deutschland führt nicht in Europa, das überlassen wir neuerdings Frankreich. Aus dem atlantischen Bündnis sind wir beim gebotenen Einsatz in Libyen ausgeschert. Und US-Präsident Obama macht bei seiner Europa-Tournee um Deutschland einen Bogen. Dabei weiß jeder: Ohne Europa wird Deutschland künftig schwach. Und ohne ein einiges Europa wird es diesem Erdteil im Kräftemessen zwischen den USA, China, Indien und Südamerika ebenso gehen. Und ohne die USA wird nicht nur der Gedanke der Freiheit als Grundlage des kreativen Fortschritts leiden, Europa wird auch rasch isoliert sein.

Dass dieser Abend am Wannseeufer eine geschichtliche Lehrstunde wurde (über die sogar die New York Times und der International Herald Tribune, kaum aber deutsche Medien berichtet haben), lag an exzellenten Reden.  Robert  Zoellick, der an der Seite George H.W. Bushs den Prozess der deutschen Wiedervereinigung begleitet hatte, beschwor Sie: „The Atlantic must be a bond, not a barrier“, und er sagte auch: „Decisive moments are fleeing“ – der Atlantik muss verbinden, nicht trennen, und: historische Chancen sind flüchtig.  Bill Clinton rühmte Kohl dafür, dass er in den entscheidenden Momenten alle Fragen im Sinne aller Beteiligten richtig beantwortet hat, und so Deutschlands Einheit, Europas Freiheit und den weltweiten Siegeszug der Idee der Freiheit ermöglichte: „Never take this for granted“, mahnte er, „and never squatter his legacy.“ Da meinte Clinton alle jene, vor allem außerhalb der Festversammlung, denen jede europäische Leidenschaft abgeht. Die Europa weniger als Idee, sondern als Zweckmäßigkeitsbündnis betrachten, das man auflösen kann, wenn der Nutzen nicht mehr offenkundig ist.

Helmut Kohls Leidenschaft ist da ungebrochen, und an jenem Abend spürte man das, als er mit schleppender Stimme, aber klarem Kopf seine Zuhörer beschwor, weiterzubauen an der Leiter Europas. Man solle nicht auf Stimmungen hören („Wenn wir 1989 in der alten Bundesrepublik abgestimmt hätten, wäre ich mir  des Ausgangs nicht sicher gewesen“), man müsse Stolz entwickeln auf die Wurzeln Deutschlands und Europas, Deutschland dürfe in Europa „nicht auf die anderen warten, sondern müsse „an die Spitze“.  Und schließlich sagte Kohl: „Wer glaubt, man könne neu anfangen, der täuscht sich. Wir müssen den Weg weitergehen, so schwer er auch sein mag.“

Ich weiß nicht, verehrte Frau Bundeskanzlerin, wie Sie den Abend empfanden. Aber selbst, wenn man alles Hagiographische, das solchen Anlässen eignet, abzieht: Er verwies doch auf die schwierige Lage Europas und des westlichen Bündnisses, die vor allem sozialdemokratisch geführte Regierungen (etwa in Griechenland, aber auch die ihres Vorgängers Schröder) uns eingebrockt haben und die überproportionale Überzeugungsanstrengungen bei den Bürgern in der EU notwendig macht. Und damit richtete sich der ganze Abend eigentlich an Sie.

Ein starkes Deutschland in einem starken Europa – das ist Ihre Aufgabe, vor allem angesichts der Schwäche unseres Außenministers. Sie bestimmen die Richtlinien der Politik.

Herzlich
Ihr
Michael Rutz
(Erschienen am 29.5.2011 in Christ und Welt/ DIE ZEIT)


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