25. April 2024

Den Zeitgeist prägen! Brief an die Kanzlerin, 1

Liebe Frau Merkel,

man muss es einmal sagen: Sie haben das schwerste Amt. Ein deutscher Bundeskanzler trägt mit an der Geschichte der ganzen Welt, wie Atlas in der griechischen Mythologie:  Der wurde als Rebell  von Zeus damit bestraft, die „Mutter Gaia“ an ihrem westlichen Rand auf die Schultern zu nehmen, damit sie dem Himmel fernbleibt.

Ihre Kanzler-Last ist keine Strafe. Sie machen das, weil Ihnen Deutschland am Herzen liegt. Je überzeugter Sie vorangingen, erklärt und entschieden haben, umso beliebter waren Sie. Führung erzeugt Gefolgschaft. In Ihrer CDU kam man an dieser Führungskunst nicht vorbei. Heute macht Ihnen – Sie haben da ein bisschen nachgeholfen – keiner Ihren Posten streitig.

Ich spüre, dass sich das ändert. Das Volk ist tief verunsichert. Uns beschleicht das Gefühl, dass immer mehr Entscheidungen nicht nach Faktenlage fallen, sondern nach dem Pegelstand von Emotionen. Dass ein angstgetriebener Dezisionismus einzieht. Dass Kompromisse zugelassen werden bei Themen,  die Halbherzigkeiten gar nicht ertragen. Dass nicht Deutschlands Zukunft im Blick ist, sondern die Gegenwart mit ihren Stimmungen, die wegen anstehender Wahlen bedient werden sollen.

Erstes Beispiel: Die Energiepolitik. Sichere, immer verfügbare und bezahlbare Energie war die Grundlage unsres Wohlstandes. Unser Erfindungsreichtum hat den Morgenthau-Plan erledigt, der uns zum Agrarland degradieren wollten. Unsere Ingenieure haben nicht nur die weltbesten Maschinen, sondern auch die sichersten Kraftwerke gebaut. Deutschland hat deswegen auch in der komplizierten Kernkraft-Technologie keinen riskanten Störfall erlebt. Tschernobyl und Fukushima hätten bei uns nicht passieren können.

Es ist, verehrte Frau Merkel, absolut richtig, Deutschland auf den Weg zur Autarkie schicken, spät genug. Öl und Gas beziehen wir zumeist aus Staaten mit schütteren politischen Systemen. Kohle ist und bleibt schmutzig. Bei der Kernkraft ist das Endlager nicht geklärt, weil politische Feigheit und Führungsschwäche das verhindert haben. Wer nun Kernkraftwerke abschalten will, der muss alle Kraft in die großen Energietechnologien der Zukunft stecken: Die Kernfusion beispielsweise, auch in modernste viel risikoärmerere Kernkraftwerke mit risikoärmerer Technologie, oder in die Wasserstofftechnologie. Stattdessen wird uns die Rückkehr zur Windmühlentechnik als Großfortschritt verkauft von einem Umweltminister, dessen populistische Salti auf die Nerven gehen. Wir haben Solarzellen und erneuerbare Energien hoch subventioniert, ohne uns dafür wenigstens  die technologische Marktführerschaft eingehandelt zu haben. Ein verlässliches Zukunfts-Energiekonzept gibt es nicht, nur immer den Satz: Der Verbraucher wird’s schon zahlen.

Weitere Begründungen für den Stimmungswandel:  Wieso darf ein amtsschwacher Außenminister unsere feste Einbindung ins westliche Bündnis (der wir unsere Einheit zu verdanken haben) von heute auf morgen zerstören? Wieso inszeniert die CDU eine bevormundende Familienpolitik, die unter dem Vorwand der Gleichberechtigung Frauen in Wirklichkeit belastet, entmachtet und Familien schädigt? Warum lassen Sie beim Euro eine Solidarität zu, in der (wie auch in der deutschen Sozialpolitik) der Eigenbeitrag der Hilfsbedürftigen klein-, der Finanztransfer des deutschen Steuerzahlers aber großgeschrieben wird? Warum dürfen CDU-Abgeordnete eine Präimplantationsdiagnistik fordern, in der der Wunsch nach einem gesunden Kind das Recht auf Leben überstimmt? Warum redet die CDU ständig von Bildung, gibt aber (wie jetzt wieder in Sachsen-Anhalt) die bildungspolitische Verantwortung ständig an die Grünen oder die SPD ab?
Gehen Sie wieder voran, kümmern Sie sich nicht um Medienlärm, Stimmen und Stimmungen. Dem Zeitgeist folgt man nicht, man prägt ihn. Sie, Frau Bundeskanzlerin, können das.

Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Michael Rutz(Erschienen am 16.4.2011 in Christ und Welt/ DIE ZEIT)



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