19. März 2024

Die EU: Ein großer Erfolg

Wer in diesen Tagen über die Europäische Union spricht, hat es mit einer negativen Erwartungshaltung seiner Zuhörer zu tun. Denn an der EU gibt es vieles zu kritisieren, und Medien und Politiker füllen – zumal in Zeiten des Wahlkampfes – dieses „Framing“ weidlich aus: Zu viel Brüsseler Bürokratie, zu bevormundend, die Nationalstaaten einengend, nicht wirklich demokratisch, zu different die Vorstellungen ihrer Mitglieder über Ausmaß und Methoden vergemeinschafteter Politik.

Nicht alles an dieser Kritik ist falsch. Da verwundert es, dass die Liste der Staaten, die gerne EU-Mitglied werden möchten, immer noch lang ist. Sie alle rekurrieren auf den Artikel 49 des EU-Vertrags, der jedem europäischen Land das Recht einräumt, einen Beitrittsantrag zu stellen. Montenegro, Serbien, Albanien und Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, die Türkei: Gerne würden sie zur EU stoßen. Unentschieden ist auch, wie das eines Tages mit den EFTA-Staaten Island, Liechtenstein, Norwegen oder der Schweiz sein wird. Selbst in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, der Ukraine und Weißrussland werden immer wieder Beitrittsambitionen formuliert – nur gebremst vom wachsamen Auge Moskaus. Russlands leidet noch stark unter den Amputationsschmerzen durch den Zerfall des Sowjetreiches und würde gerne wieder zu alter Einflussgröße aufwachsen, weshalb es die Erweiterung der EU als territoriale Gefahr missversteht.

Was macht die Europäische Union so attraktiv? Immer noch ist es die klare Erkenntnis, dass von diesem Zusammenschluss eine ungeheure Friedendividende ausgeht. Nach einem halben Jahrhundert der Weltkriegs-Katastrophen hat West-Europa seit 1950 eine in ihrer Dauer geschichtlich bisher unbekannte Periode des Friedens in Freiheit erlebt, die zugunsten der gemeinsamen Idee das Nationale in den Hintergrund schob. Der Kontinent durfte sich, in seinem westlichen Teil, zurückbesinnen auf die besten Traditionen Europas, in dem die Gedanken von Menschenwürde, Freiheit und Demokratie wurzeln. Er bekam die Chance, damit auch seine Traditionen der Unterwerfung und des Kolonialismus zu beenden. Individuelle Freiheit, Demokratie und menschliche wie materielle Solidarität – vor allem diese Versprechen entwickelten eine Anziehungskraft, die nach 1989 zum Zerfall des Sowjetreichs führten und zur so genannten „Osterweiterung“ der EU. 

Das war kein EU-Expansionismus, mit Waffen oder Erpressung herbeigezwungen, vielmehr wollen all diese Menschen nach erlebter kommunistischer Zwangsherrschaft und Mangelverwaltung in Gesellschaften leben, die sowohl Freiheiten als auch wirtschaftliche Expansion und Wohlstand sichern. Diese EU mit allen ihren menschenfreundlichen Grundlagen entwickelt bis heute große Anziehungskraft, sie ist eine Verheißung für viele Staaten und auch Migranten in aller Welt, die teilhaben wollen an diesem „europäischen Traum“.

Der Austritt Großbritanniens aus der EU ändert daran nichts. Das Land leidet unter den Nachwehen des Verschwindens seines großen Empire, es spürt die Immigrationsfolgen seiner Kolonialisierung und auch jene der modernen Migration und ist deshalb auf der Suche nach seiner eigentlichen Identität, die es notfalls um den Preis unvernünftiger Selbstkasteiung und materieller Abstriche zu finden wünscht. Die EU ist da im Wege, weil ihr großzügiger Gedanke der Überwölbung nationalistischen Empfindens diesen Prozess stört. Ja, und vielleicht zählt in nicht allzu ferner Zeit auch Großbritannien wieder zu den Beitrittskandidaten, weil man auf der Insel nicht verlernen wird, die Ideale der Europäischen Union zu teilen.

Der Schaden für Großbritannien durch den EU-Austritt wird immens sein – wirtschaftlich, politisch, bildungspolitisch, wissenschaftlich, migrationspolitisch. Die anderen EU-Mitglieder sind gewarnt: Das wollen sie nicht erleben, weshalb der „Brexit“ zu einem Element der EU-Stärkung geworden ist und man auch frischen Willen zum Zusammenhalt spürt. Angesichts ihrer gegenwärtigen Probleme kann die EU für den Brexit geradezu dankbar sein.

Erfahrene EU-Politiker sehen denn auch die gegenwärtige EU-Krise gelassen. Sie wissen: Schon immer ist der Staatenbund aus seinen oft großen inneren Verwerfungen gestärkt hervorgegangen. 1954 scheiterte das Vorhaben einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, aber 40 Jahre später gelang sie doch. 1963 verhinderte Frankreich den EU-Beitritt Großbritanniens – nach zehn Jahren wurde er doch vollzogen. 1979 ließ Margaret Thatcher durch ihre erfolgreiche Einforderung eines Beitragsrabattes die Europäische Union beinahe platzen – die aber hielt zusammen. 1992 scheiterte der Maastricht-Vertrag an Dänemark – ein Jahr später stimmen sie nach dem Geschenk kleinerer Ausnahmeregelungen doch zu. 1999 standen EU-Kommissare unter Betrugsverdacht – eine neue EU-Kommission reparierte den Schaden. 2001 lehnten die Iren den Vertrag von Nizza ab, ein Jahr ratifizierten sie das Vertragswerk doch (nach der Zusicherung ihrer militärischen Neutralität). 2005 stimmten Franzosen und Niederländer und auch die Briten gegen die EU-Verfassung, man ersetzte das Vorhaben später durch den Vertrag von Lissabon.

Und so ging es weiter: Immer wieder Streit und neue Untergangsprognosen aufgeregter Medien und Politiker, aber eben immer wieder Einigung – und immer wieder neue Mitglieder für die EU.

Politik wird von Menschen gemacht, auch die der Europäischen Union. Sie ist stark immer dann, wenn charismatische Führer große Ideen mit Tatkraft zu verbinden verstehen. Frankreichs Präsident Macron ist so ein Typus. Die Eleganz, mit der er beim G7-Gipfel soeben vorführte, wie man Krisenherde der Welt mit Diplomatie entschärfen kann, hat auch der Europäischen Union genutzt und spüren lassen, über welch innere Kräfte sie verfügt. Darauf kann man bauen. Nun braucht die EU einen Dialog und einen großen Kompromiss über ihre künftige Form. Dann wird sie wiederum stärker sein als zuvor – und man kann zuversichtlich sein: Dieser Findungsprozess kann mit der neuen EU-Kommissionspräsidentin gelingen.

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