25. April 2024

Grassens „letzte Tinte“: Brief an die Kanzlerin, 18

Liebe Frau Merkel,

Sie werden sich in diesen Tagen über Günter Grass geärgert haben. Denn für die Außenpolitik Deutschlands ist es nicht unerheblich, wenn sich einer unserer Nobelpreisträger zum Kronzeugen gegen deutsche Politik machen läßt. Grass hatte geschrieben: „Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.“ Richtig ist: Niemals hat Israel das Recht auf atomaren Erstschlag reklamiert. Und nicht Israel will das iranische Volk auslöschen, sondern Irans Präsident Israel „von der Landkarte tilgen“. Dafür baut er an einer Atombombe, dafür gefährdet er den Weltfrieden.

Man kann Günter Grass nun töricht, politisch naiv, peinlich, vielleicht auch antisemitisch nennen. Aber: Er muss derlei sagen dürfen. Wir wollen wissen, woran wir mit ihm sind. Und er hat, wie alle anderen Meinungsträger in unserer freiheitlichen Demokratie auch, Anspruch darauf, dass man ihn nicht mit Empörungswellen sozial niederstreckt, sondern argumentativ. Gerade Dummheit muss – vor dem Hintergrund unserer Geschichte –  ernstgenommen werden.

Zu den Forderungen mit Konjunktur gehört gegenwärtig auch, Schriftsteller sollten sich mit politischen Äußerungen zurückhalten. Sie seien politisch nicht in besonderer Weise privilegiert, denn es komme zur Beurteilung von politischen Sachverhalten auf Sachkenntnis an, die man nicht durch Sprachkompetenz ersetzen könne. Das ist richtig (siehe Grass) und falsch zugleich.

Falsch ist es, weil Sprachkompetenz  Zustände plastisch greifbar machen kann. Sie schafft neue Begriffe, sie bildet „Fahnenwörter“, hinter denen man sich versammeln kann. Sprache kann dann eine Waffe sein, wenn man zu anderen Waffen nicht greifen kann oder will.

Auch deshalb wurde die Wende möglich. Sie, Frau Merkel, wissen: In der DDR gaben Schriftsteller wie Günter Kunert oder Wolf Biermann denen eine Sprache, die aus Existenzangst schwiegen. Bert Brecht kämpfte mit seinen Bühnenstücken für soziale Gerechtigkeit und gegen Krieg. In der Bundesrepublik lösten Schriftsteller wie Günter Wallraff, Bernt Engelmann, Gerhard Zwerenz, Peter Handke, Martin Walser oder auch Günter Grass immer wieder heftige Debatten aus, die man als fruchtbar gerade auch dann bezeichnen muss, wenn man entschieden anderer Meinung war.

Nie war Schriftstellerei unpolitisch. Goethe schrieb für bürgerliche Tugenden, für Werte, für eine gute Pädagogik. Er und Schiller waren Protagonisten liberalen Denkens. Charles Dickens sorgte mit dem „Oliver Twist“ für soziale Reformen. Harriet Beecher-Stowe bekämpfte mit „Onkel Toms Hütte“ den Rassismus in Amerika. Niederländische Schriftsteller lenkten die Aufmerksamkeit auf die trüben Folgen des Kolonialismus. Alexander Solschenizyn erzwang  mit dem „Archipel Gulag“ Öffentlichkeit für das menschenverachtende Sowjetsystem. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Gerade wir Europäer haben Schriftstellern und ihren politischen Motiven viel zu danken. Da tun auch Bundesregierung und die Parteien gut daran, Grassens „letzte Tinte“ mit milder Nachsicht hinzunehmen.

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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