23. April 2024

Ein Interview mit der Kanzlerin, 24

Liebe Frau Merkel,

heute ist ihr Urlaub zu Ende. Hoffentlich hatte er diesen Namen verdient, denn an Unterbrechungen war gewiss kein Mangel. Die Süddeutsche Zeitung hat sie damit unterhalten, Ihnen die je eine Frage von ein paar Dutzend „Prominenten“ zu schicken. Mein Gott, was müssen diese Menschen gegrübelt haben: Welche eine, einzigartige Frage stelle ich nur der Kanzlerin? Roger Willemsen hat die Frage erhirnt, welches Doppelleben Sie zu führen wünschten, Reinhold Beckmann war neugierig auf Ihre Würdigung von Hannelore Kraft, Boris Becker forschte nach der Liste ihrer liebsten Dinnerparty-Gäste, und so weiter.

Da Sie jetzt wieder im Kreise ihres Lieblinkskabinetts sind, spüren Sie die harte Politik. Die Kolleginnen und Kollegen haben Vorarbeit geleistet. Ich habe dazu ein paar Fragen an Sie (und damit Sie nicht so viel Arbeit haben, liefere ich die Antworten gleich mit):

Die Herren Schäuble, Seehofer, Brüderle und Gabriel wünschen sich größtkoalitionär eine Volksabstimmung über Europa. Macht das Sinn?

Merkel: Nein. Wir haben eine repräsentative Demokratie und dürfen die Parlamente nicht entwerten. 2013 sind Wahlen. Da kann jeder über das Europa-Programm der Parteien abstimmen.

Welches Europa wollen Sie?

Merkel: Am Ende die Vereinigten Staaten von Europa als einer Wettbewerbs-Föderation starker Vaterländer. Die zentralen  Politikfunktionen wie Währungs- und Fiskalpolitik, Wettbewerbspolitik, Verteidigung, Außenpolitik werden in Brüssel und im Europaparlament entschieden, alles andere auf nationaler Ebene in den nationalen Parlamenten.

Frau von der Leyen will in einer Art Sommer-Coup eine Mindestrente von 850 Euro einführen. Ist das eine gute Idee?

Merkel: So nicht. Man kann diejenigen, die sich 850 Euro Rente erarbeitet haben, nicht dadurch düpieren, dass man anderen, die das nicht taten, von Staats wegen dasselbe gibt. Die gute Idee im Vorschlag Frau von der Leyens ist die hohe Anrechnung von Kindererziehungszeiten.

Frau Schröder freut sich gerade darüber, dass ihre Kita-Politik zum Erfolg wird: Die Bundesmittel fließen endlich ab.

Merkel: Frau Schröder macht überhaupt eine tolle Arbeit. Manche im Kabinett sind gewichtiger in ihrer Rhetorik als in ihrem Handeln. Bei Frau Schröder ist das umgekehrt.

Ihr Innenminister musste jetzt gestehen, dass er sich für die 132 Millionen Euro olympischer Sportförderung des Bundes 86 Medaillen versprochen hat. Stattdessen waren es in London sind es nur 44. Soll man die Fördermittel kürzen?

Merkel: Nein. Spitzensport hat Vorbildfunktion, macht die Menschen stolz. Vielleicht muss man eher mehr Geld in die Hand nehmen und die Spitzensportler finanziell besser stellen, dass sie sich die intensive Trainingszeit auch finanziell leisten können.

Man traut sich kaum zu fragen: Wie geht es mit dem Euro weiter?

Merkel: Gut. Auf dem Wege dahin werden wir jene finanzielle Solidarität in Europa zeigen, die in der Bundesrepublik früher zum Beispiel Bayern bekommen hat.

Für das Interview bedankt sich

Ihr

Michael Rutz

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt am 15. August 2012)

 

Grassens „letzte Tinte“: Brief an die Kanzlerin, 18

Liebe Frau Merkel,

Sie werden sich in diesen Tagen über Günter Grass geärgert haben. Denn für die Außenpolitik Deutschlands ist es nicht unerheblich, wenn sich einer unserer Nobelpreisträger zum Kronzeugen gegen deutsche Politik machen läßt. Grass hatte geschrieben: „Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.“ Richtig ist: Niemals hat Israel das Recht auf atomaren Erstschlag reklamiert. Und nicht Israel will das iranische Volk auslöschen, sondern Irans Präsident Israel „von der Landkarte tilgen“. Dafür baut er an einer Atombombe, dafür gefährdet er den Weltfrieden.

Man kann Günter Grass nun töricht, politisch naiv, peinlich, vielleicht auch antisemitisch nennen. Aber: Er muss derlei sagen dürfen. Wir wollen wissen, woran wir mit ihm sind. Und er hat, wie alle anderen Meinungsträger in unserer freiheitlichen Demokratie auch, Anspruch darauf, dass man ihn nicht mit Empörungswellen sozial niederstreckt, sondern argumentativ. Gerade Dummheit muss – vor dem Hintergrund unserer Geschichte –  ernstgenommen werden.

Zu den Forderungen mit Konjunktur gehört gegenwärtig auch, Schriftsteller sollten sich mit politischen Äußerungen zurückhalten. Sie seien politisch nicht in besonderer Weise privilegiert, denn es komme zur Beurteilung von politischen Sachverhalten auf Sachkenntnis an, die man nicht durch Sprachkompetenz ersetzen könne. Das ist richtig (siehe Grass) und falsch zugleich.

Falsch ist es, weil Sprachkompetenz  Zustände plastisch greifbar machen kann. Sie schafft neue Begriffe, sie bildet „Fahnenwörter“, hinter denen man sich versammeln kann. Sprache kann dann eine Waffe sein, wenn man zu anderen Waffen nicht greifen kann oder will.

Auch deshalb wurde die Wende möglich. Sie, Frau Merkel, wissen: In der DDR gaben Schriftsteller wie Günter Kunert oder Wolf Biermann denen eine Sprache, die aus Existenzangst schwiegen. Bert Brecht kämpfte mit seinen Bühnenstücken für soziale Gerechtigkeit und gegen Krieg. In der Bundesrepublik lösten Schriftsteller wie Günter Wallraff, Bernt Engelmann, Gerhard Zwerenz, Peter Handke, Martin Walser oder auch Günter Grass immer wieder heftige Debatten aus, die man als fruchtbar gerade auch dann bezeichnen muss, wenn man entschieden anderer Meinung war.

Nie war Schriftstellerei unpolitisch. Goethe schrieb für bürgerliche Tugenden, für Werte, für eine gute Pädagogik. Er und Schiller waren Protagonisten liberalen Denkens. Charles Dickens sorgte mit dem „Oliver Twist“ für soziale Reformen. Harriet Beecher-Stowe bekämpfte mit „Onkel Toms Hütte“ den Rassismus in Amerika. Niederländische Schriftsteller lenkten die Aufmerksamkeit auf die trüben Folgen des Kolonialismus. Alexander Solschenizyn erzwang  mit dem „Archipel Gulag“ Öffentlichkeit für das menschenverachtende Sowjetsystem. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Gerade wir Europäer haben Schriftstellern und ihren politischen Motiven viel zu danken. Da tun auch Bundesregierung und die Parteien gut daran, Grassens „letzte Tinte“ mit milder Nachsicht hinzunehmen.

(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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