29. März 2024

Prädikat: besonders wertvoll

Die Ethikdebatten in und nach der Corona-Krise brauchen christliche Einmischung

Diese Wochen bringen die von uns gekannte Welt an ihre Grenzen. Nach dieser Krise werden, das darf man voraussagen, alte Fragen neu gestellt. Was etwa wird die Folge des Umstandes sein, dass wir aus guten humanen Gründen gegenwärtig die Kräfte der ganzen Welt aufwenden und sie zugleich einen hohen wirtschaftlichen und sozialen Preis zahlen lassen, um das Leben verhältnismäßig weniger Covid19-Patienten zu retten, wie wir dies noch bei keiner anderen Krankheit taten – nicht bei der Influenza (sie kostete 2017/2018 in Deutschland 25 100 Menschen das Leben), nicht bei den Todesfällen durch Krankenhauskeime (zwischen 10 000 und 20 000 Tote in Deutschland jährlich)? 

Zu befürchten ist, dass man schon in wenigen Monaten das Verhältnis von Freiheit und Gesundheit zugunsten der Gesundheit (und also zu Lasten der Freiheit) neu vermessen wird. Lautstark wird sich, mindestens, der Anspruch der Welt an das Individuum bemerkbar machen, im Gegenzug zur Weltsolidarität gegenüber dem Einzelnen künftig seine Selbstzerstörungen (deren Reparatur er dem Sozialversicherungssystem abfordert) zu unterlassen oder die Folgen selbst zu tragen. 

Denn von selbst wird der Mensch ihm liebgewordene Laster nicht aufgeben, etwa Nikotin, Alkohol, falsche Ernährung, mangelnde Bewegung. Er empfindet das als Ausübung seiner Freiheit, von deren Risiko er weiß. Ständig vernünftig, das will er nicht sein. Romano Guardini hat das in seinen Vorlesungen zur Ethik so formuliert: „Hinter den üblichen Aussagen über Gesundheit und Krankheit steht die Voraussetzung, der Mensch sei ein ‚normales System‘, ein Gefüge von Kräften, Tendenzen und Regulativen, das ‚in Ordnung‘ ist; auf das man sich mit der Aussage beziehen, und auf das hin man praktisch arbeiten kann. Das ist aber nicht der Fall. Wie der Mensch ist, enthält er quasi-konstitutiv den Widerspruch. Er ist von vornherein nicht einfachhin ‚gesund‘. Die Störung, die Krankheit kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen. Sie ist dem Menschen endogen.“

Wo also soll man stehen, wenn nun das dem Individuum zustehende Maß an Freiheit neu abgeschätzt werden wird und sich totalitäre Ideologien aus allen Bereichen neue Kunden suchen? Welche Randbedingungen gibt es da? Wieviel Risiko des Lebens, inklusive des Todesfalls, darf oder muss sein? Welches Maß an Freiheit – auch der Freiheit zur Unvernunft – kann, ja muss eine freiheitliche Gesellschaft ihren Bürgern einräumen? Was gilt es da gerade für Christenmenschen zu verteidigen, wenn nicht mehr Gott, sondern der Humangenetiker Herr über Leben und Tod ist? 

Es ist Wesensmerkmal der Neuzeit, dass Wissenschaft, Religion und Politik ihre Welten voneinander getrennt haben. Gemessen an den Zuständen im Mittelalter ist das ein großer Fortschritt. Aber aus dem Eigenleben der Dinge erwächst eine Entfremdung,  die schon Guardini fragen ließ, ob nicht die Religion „immer mehr die unmittelbare Beziehung zum Leben“ verliere, ihr Weltgehalt verarme und sie auf die Bedeutung reduziert werde, als Begleiter „den Kulminationspunkten des Daseins, wie Geburt, Eheschließung und Tod, eine religiöse Weihe zu geben.“ Nun haben im Ringen um die Freiheit, das wiederkehren wird, auch die christlichen Religionen, haben die Kirchen in ihrem gesellschaftspolitischen Bezug eine neue Chance.

Die religiöse Deutungshoheit holt man sich freilich nicht durch Apokalyptik zurück: „Corona“ sei eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschheit, das Ende sei nun nahe. Nichts davon stimmt für den aufgeklärten Christen. Aber der Mensch selbst gelangt wesensmäßig in die Nähe des Endes: Die Herrschaft des Menschen über die Natur vervollkommnet sich. Sichtbar ist, schreibt Guardini im Essay „Das Ende der Neuzeit“, dass „unsere Existenz in die Nähe der absoluten Entscheidung und ihrer Konsequenzen gelangt; der höchsten Möglichkeiten wie der äußersten Gefahren.“

Noch ist das ewige Leben, gentechnisch erzeugt, nicht Wirklichkeit, aber diese Wirklichkeit rückt näher. Diese Vorstellung ist nicht aus der Lektüre von Simone de Beauvoirs Roman „Alle Menschen sind sterblich“ entsprungen, in der der norditalienische Patriziersohn Raymond Fosca die Unsterblichkeit erlangt und die Welt in ihrem Kommen und Gehen auf ewig zu erleben und zu erleiden verurteilt ist. Nein, diese Wirklichkeit wird vielmehr in den Laboren amerikanischer Universitäten Wirklichkeit. In seinem neuen lesenswerten Buch „Das Ende des Alterns“ erläutert David A. Sinclair, Professor für Genetik an der Harvard Medical School und Pionier der epigenetischen Medizin, „warum ich das Altern mittlerweile als Krankheit – als die häufigste aller Krankheiten – betrachte, die man nicht nur aggressiv behandeln kann, sondern auch aggressiv behandeln sollte.“ Und er erläutert die anstehenden Therapien dazu.

Wer also setzt der Wissenschaft Grenzen? Jetzt in der Corona-Krise wie erst recht in einem uns für demnächst in Aussicht gestellten höchsten Triumph der Wissenschaft über die Natur wird die Religion wieder in ihr Recht gesetzt werden: Hilfe und ethische Maßstäbe zu geben bei den für Politiker schwierigen Entscheidungen, die dann anstehen, wenn der medizinwissenschaftliche Rat alleine zum Überleben nicht mehr taugt oder die Wissenschaft gar in ihrem Machtstreben gezähmt werden muss. Werden Politik und die Ethik des Christentums die gemeinsame Kraft dazu finden?

All diese Fragen entstehen im Dreieck von Religion, Wissenschaft und Kultur. Zu all dem will die Arbeit der Guardini-Stiftung und will dieser Newsletter – „Guardini akut“ – Beiträge leisten. Sie werden ihn wöchentlich erhalten. In dieser ersten Ausgabe schreibt auch Professor Ugo Perone, „unser“ Inhaber des Guardini-Lehrstuhles an der Humboldt-Universität. Er sitzt fest in seiner Wohnung im italienischen Turin und hat uns viel zu sagen.

Der Präsident der Guardini Stiftung, Prof. Michael Rutz, sieht die Entscheidungen, die uns die Corona-Krise auferlegt hat und die uns von den Naturwissenschaften noch auferlegt werden, mit gemischten Gefühlen. Michael Rutz hat in seinen leitenden Funktionen beim Bayerischen Rundfunk, als Chefredakteur von SAT1 und der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ sowie in zahlreichen Fernsehfilmen und Büchern gesellschaftliche Verwerfungen analysiert. Als geschäftsführender Gesellschafter der „Prof. Rutz Communications GmbH“, Berlin, berät er Firmen und Institutionen nicht zuletzt zu diesen Themen. Zudem lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Wirtschaft und Technik in Mittweida im Fach Medientechnik. Er harrt gegenwärtig aus in seinem Heidehof in Egestorf.

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