6. Oktober 2025

Türkei:

Brief an die Kanzlerin, 25

 

Liebe Frau Merkel,

beinahe hätte ich darauf vergessen, diesen Brief zu schreiben. Eben noch hatten wir uns am Fischmarkt von Fethiye ein paar Doraden grillen lassen, dann im hübschen Café Oranje noch einen Espresso getrunken, und fuhren nun nach eine Woche herrlichen Segelurlaubs an der lykischen  Südküste der Türkei im Bus zum Flughafen nach Dalaman – da klingelte mein Telefon. Wo meine Kolumne bliebe, fragte mit gestrengem Ton Christiane Florin. Also sitze ich jetzt am frühen Dienstagmorgen an meinem Computer und denke an Sie, unsere Kanzlerin.

Nicht, dass ich in der letzten Woche auf Sie hätte vergessen können. Einmal, beispielsweise, sahen wir die Umrisse der Insel Rhodos am Horizont, und natürlich fiel einem da inmitten der irenischen Szene die ganze Griechenland-Misere ein, nichts wünscht man sich dann mehr, als dass die Diskrepanz zur rauhen Rettungs-Wirklichkeit in Euroland nun endlich zum Guten hin überwunden würde, man fühlt sich von dem offenkundig ergebnislosen Hin und Her der Politik ja fast in psychische Geiselhaft genommen, nichts geht voran, Einigungen gibt es nicht, ein Alltags-Alarmismus, der zu defätistischer Gewöhnung verkommt. Wie lange, dachte ich mir da, muten uns die Kanzlerin und ihre Kollegen das noch zu?

In einem kleinen Hafen habe ich mir eine deutsche Zeitung gekauft und las, sie besuchten in China gerade den Ministerpräsidenten Wen Jiabao als dessen  „ziemlich beste Freundin“ (FAZ). Sie redeten über den Euro, über Wirtschaft, über Syrien. Und augenzwinkernd auch ein bisschen über die Menschenrechte, aber solche Mahnungen werden in den politischen Gesprächen von Deutschland so routiniert untergebracht wie sie von den Chinesen zur Kenntnis genommen werden, deswegen ändert sich nichts. Mit Russland ist das ja ähnlich. Tatsächlich liegt das Hauptziel auch der deutschen politischen Diplomatie ja nicht in Menschenrechtsfragen, sondern in der Wahrung materieller oder strategischer nationaler Interessen. Ich finde das prinzipiell auch in Ordnung, „Wandel durch Annäherung“ hat man dieses Rezept früher genannt. Nur sollte das Kanzleramt sein menschenrechtliches Unvermögen dann nicht dadurch kaschieren, dass es diesen Druck mit einer gewissen Häme auf die bilateralen zivilgesellschaftlichen Kontaktorganisationen  weiterleitet (etwa auf das Deutsch-Russische Forum), die sinnvollerweise auch nicht mit dem Holzhammer vorgehen, sondern in vielen  Kontakten und Gesprächen den Mut zum inneren Wandel im Partnerland stärken.

Schließlich, im Flieger nach Hause, zog ich Türkei-Bilanz. Mitglied der Europäischen Union oder nicht? Wahrscheinlich ja, das Land hat große innere Kraft, demografisch und wirtschaftlich, es hat eine funktionierende Staatsorganisation, eine zunehmend effiziente Verwaltung, die Menschen arbeiten fleißig am eigenen Fortschritt. Die EU hat der Türkei den „Acquis communautaire“ zur Umsetzung aufgeben, also die Angleichung aller Rechtsakte. Europa wird die innere Kraft dieses Landes brauchen, wenn es im Weltenkonzert Gewicht behalten will. Überzeugen Sie davon auch Ihre Partei!

Herzlich

Ihr

Michael Rutz

 

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt am 12. September 2012)

Ein Interview mit der Kanzlerin, 24

Liebe Frau Merkel,

heute ist ihr Urlaub zu Ende. Hoffentlich hatte er diesen Namen verdient, denn an Unterbrechungen war gewiss kein Mangel. Die Süddeutsche Zeitung hat sie damit unterhalten, Ihnen die je eine Frage von ein paar Dutzend „Prominenten“ zu schicken. Mein Gott, was müssen diese Menschen gegrübelt haben: Welche eine, einzigartige Frage stelle ich nur der Kanzlerin? Roger Willemsen hat die Frage erhirnt, welches Doppelleben Sie zu führen wünschten, Reinhold Beckmann war neugierig auf Ihre Würdigung von Hannelore Kraft, Boris Becker forschte nach der Liste ihrer liebsten Dinnerparty-Gäste, und so weiter.

Da Sie jetzt wieder im Kreise ihres Lieblinkskabinetts sind, spüren Sie die harte Politik. Die Kolleginnen und Kollegen haben Vorarbeit geleistet. Ich habe dazu ein paar Fragen an Sie (und damit Sie nicht so viel Arbeit haben, liefere ich die Antworten gleich mit):

Die Herren Schäuble, Seehofer, Brüderle und Gabriel wünschen sich größtkoalitionär eine Volksabstimmung über Europa. Macht das Sinn?

Merkel: Nein. Wir haben eine repräsentative Demokratie und dürfen die Parlamente nicht entwerten. 2013 sind Wahlen. Da kann jeder über das Europa-Programm der Parteien abstimmen.

Welches Europa wollen Sie?

Merkel: Am Ende die Vereinigten Staaten von Europa als einer Wettbewerbs-Föderation starker Vaterländer. Die zentralen  Politikfunktionen wie Währungs- und Fiskalpolitik, Wettbewerbspolitik, Verteidigung, Außenpolitik werden in Brüssel und im Europaparlament entschieden, alles andere auf nationaler Ebene in den nationalen Parlamenten.

Frau von der Leyen will in einer Art Sommer-Coup eine Mindestrente von 850 Euro einführen. Ist das eine gute Idee?

Merkel: So nicht. Man kann diejenigen, die sich 850 Euro Rente erarbeitet haben, nicht dadurch düpieren, dass man anderen, die das nicht taten, von Staats wegen dasselbe gibt. Die gute Idee im Vorschlag Frau von der Leyens ist die hohe Anrechnung von Kindererziehungszeiten.

Frau Schröder freut sich gerade darüber, dass ihre Kita-Politik zum Erfolg wird: Die Bundesmittel fließen endlich ab.

Merkel: Frau Schröder macht überhaupt eine tolle Arbeit. Manche im Kabinett sind gewichtiger in ihrer Rhetorik als in ihrem Handeln. Bei Frau Schröder ist das umgekehrt.

Ihr Innenminister musste jetzt gestehen, dass er sich für die 132 Millionen Euro olympischer Sportförderung des Bundes 86 Medaillen versprochen hat. Stattdessen waren es in London sind es nur 44. Soll man die Fördermittel kürzen?

Merkel: Nein. Spitzensport hat Vorbildfunktion, macht die Menschen stolz. Vielleicht muss man eher mehr Geld in die Hand nehmen und die Spitzensportler finanziell besser stellen, dass sie sich die intensive Trainingszeit auch finanziell leisten können.

Man traut sich kaum zu fragen: Wie geht es mit dem Euro weiter?

Merkel: Gut. Auf dem Wege dahin werden wir jene finanzielle Solidarität in Europa zeigen, die in der Bundesrepublik früher zum Beispiel Bayern bekommen hat.

Für das Interview bedankt sich

Ihr

Michael Rutz

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt am 15. August 2012)

 

Verfassung für Kerneuropa! Brief an die Kanzlerin, 23

Liebe Frau Merkel,

Sommerwochen sind Ferienwochen, da geht der Blick ins Nächstliegende, in die kleine Welt, die man sich erholsam zurechtlegt: zuhause, am Urlaubsort, bei den Bayreuther oder Salzburger Festspielen. Die großen Sorgen, die Politik gar: das scheint fern, das wird sich schon zurechtbiegen, darauf kommen wir später zurück. Und: Mancher Krisen sind wir müde.

Beispielsweise: der Krise in Europa. Keiner hat den Mut zum großen Wurf, wie ihn die Väter der amerikanischen Verfassung im Jahre 1787 hatten, als die damals 13 Mitgliedstaaten dem Kongress in Washington neben dem Recht zur Kriegserklärung  weit reichende andere gesetzgeberische Kompetenzen übertrugen:  für die Erhebung einheitlicher Steuern und Zölle, für den Binnen- und Außenhandel, für die Schaffung einer bundeshoheitlichen Währungsunion samt dem Recht der Kreditaufnahme auf Rechnung der Vereinigten Staaten. Drei Monate saßen sie zusammen, dann standen Dokument und Zustimmung.

Im Europa von heute stattdessen nationale Kleinkrämerei, zu langsames, zu halbherziges Agieren vor allem (aber nicht nur) bei denen, denen geholfen werden soll, Griechenland oder Spanien. Rückwärtsgewandte Politik in Frankreich. Reformmüdigkeit in Italien. Überall innenpolitische Rücksichtnahmen, scheinbar kleine Konzessionen, die sich demnächst zu einem großen Desaster auswirken werden, denn es ist in der Wirtschafts- und Währungspolitik wie in der Medizin: halbherzige Therapie kuriert nicht, sondern macht die Sache nur noch schlimmer. Da hilft es auch nicht, die Banken und die Finanzwelt zu beschimpfen, auch Sozialdemokraten und Linke werden (obgleich sie es seit Jahrzehnten immer wieder versuchen) die Gesetze des Marktes und der Ökonomie nicht erfolgreich unter ihre ideologische Kuratel zwingen.

Demnächst sind die Sommerferien zu Ende, und Sie, Frau Bundeskanzlerin, wieder im Büro. Dann müssen Sie mehr Druck machen, müssen die entschiedenen Europa-Freunde unter den bedeutenden Persönlichkeiten und Regierungschefs Europas zusammenschließen zu einem großen proeuropäischen Appell. Es bedarf mutiger Entscheidungen auf diesem Wege – gewiss auch jener, sich nun von denen zu trennen, die den Weg zu einem gesunden, stabilen, immer reformfreudigen Europa samt Wirtschafts- und Währungsraum offenbar nicht mitgehen wollen.

Europa ist am Scheideweg und braucht ein gesundes bundesstaatliches Kerneuropa mit eigener Verfassung. Amerikas Verfassungsväter haben ihre Föderation seinerzeit mit starken Gesetzgebungskompetenzen und einer starken repräsentativen Demokratie ausgestattet, denn sie „dachten in den Kategorien eines mächtigen Amerika, dem eine führende Rolle in der Welt zustand“, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler in seiner wunderbaren „Geschichte des Westens“.  Europa hat (225 Jahre später) keinerlei Anlass, weniger ambitioniert zu denken. Denn es kommt auf wirtschafts- und währungspolitische Kraft, auf verteidigungspolitische Einmütigkeit, auf innere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit im gesamten europäischen Raum an, wenn unser Kontinent mithalten will im Konzert der existierenden großen und der stark aufstrebenden Mächte wie etwa China. Oder wollen wir zum Spielball der anderen werden?

Wir vertrauen Ihnen, Frau Merkel, dass Sie das verhindern und das neue Europa schaffen.

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt am 26. Juli 2012)

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