6. Oktober 2025

Die EU abwickeln? Nein. Brief an die Kanzlerin, 31

Liebe Frau Merkel,

David Camerons kritische Rede zur Zukunft Europas enthält ja einige Wahrheiten. „Die exzessive Regulierung unserer Wirtschaft in Europa ist keine Seuche, die von außen eingeschleppt wurde“ – dieser Satz beispielsweise deutet auf einen wirklichen Missstand in der EU hin. Die zuständigen Kommissare betätigen sich da häufig zum Schaden unserer europäischen Arbeitsplätze und unserer Wettbewerbsfähigkeit. Auch Camerons Forderung: „Europas Politiker haben die Pflicht, sich Bedenken anzuhören. Es reicht nicht, die Probleme der Euro-Zone zu beseitigen“ ist  so ein wahrer Satz. Denn tatsächlich gehen Europas Politiker immerfort der Debatte aus dem Weg, welches Europa am Ende entstehen soll – wie es föderal gestaltet sein soll, welche Befugnisse wer hat, wie die Demokratie in Europa funktionieren soll.

Vier Sätze Camerons sind allerdings inakzeptabel. „Wir sind eine Familie demokratischer Nationen, Mitglieder einer Union, deren Fundament der Binnenmarkt, nicht die gemeinsame Währung ist.“ Dieser Satz lässt die Europäische Politische Zusammenarbeit vollkommen außer Betracht, etwa die (von einer Britin repräsentierte) gemeinsame Außenpolitik, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, das Europäische Justizsystem. Cameron will weit hinter den gegenwärtigen Stand zurück und damit hinter die Notwendigkeiten unserer Zeit.

Auch sein Satz „Heute ist der wichtigste Zweck der EU ein anderer: nicht mehr, den Frieden herbeizuführen, sondern den Wohlstand zu sichern“ reduziert die EU auf ihren ökonomischen Gehalt. Das signalisiert: Die Briten wollen die wirtschaftlichen Vorteile des EU-Handels  behalten, aber ihre Splendid Isolation etwa im Verteidigungsbereich nicht aufgeben. Die gemeinsame militärischen Anstrengungen aber werden wir intensivieren müssen, sind doch die Amerikaner gerade dabei, nach ihrer energiepolitischen Verselbständigung den Nahen Osten zu räumen – dann werden sich die Europäer, die von dort noch Öl beziehen, um die Sicherung der Nachschubwege schon selbst bemühen müssen.

Drittens: „Einen europäischen Demos gibt es nicht. Die nationalen Parlamente bleiben die Quelle demokratischer Legitimität.“ Wer das sagt, erledigt das Europäische Parlament, das wir Europäer gewählt haben. Die britischen Abgeordneten sollten es sofort verlassen. Viele junge Europäer fühlen sich sehr wohl als solche und empfinden auch ein politisches Zusammengehörigkeitsgefühl als EU-Bürger. Wenn den Briten das abgeht: Austreten.

Viertens: „Wenn wir die Herausforderungen nicht anpacken, besteht die Gefahr, dass Europa scheitert und das britische Volk auf den Austritt zutreibt.“ Klartext: Wenn die Europäer nicht alles tun, was die Briten wollen, sind sie an dem Austritt der Briten selbst schuld. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir sollten den Engländern den Preis klarmachen: Wer aus der Europäischen Union austreten will, der kann nicht Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bleiben. Solches Rosinenpicken gibt es nicht – ich hoffe, auch nicht mit Ihnen.

Stets Ihr

 

Michael Rutz

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt Nr. 6/2013

 

 

 

Wahre Weihnachtswerte. Brief an die Kanzlerin, 30

Liebe Frau Merkel,

„manches geht zu schnell vorbei“, schreibt mir (im Blick auf den Euro) in einem Werbeprospekt die „Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt“. Wer aber ein Ende des Euro fürchtet, der kauft sich Edelmetall. Denn: „Gold bleibt“, suggerieren mir die Goldhändler, gerade „Weihnachten, das Fest für wahre Werte“, „schlichte Eleganz verschenken Sie mit klassischen Degussa Goldbarren zu 1 g, 2,5 g oder 5 g“, wenn man nicht gleich für 41 923 Euro einen Kilobarren kaufen will. Es handelt sich, heißt es da, um „Geschenke für die Ewigkeit“, natürlich sind alle „sofort verfügbar“, einmal in Zürich und fünfmal in Deutschland, und hier eher nicht in Städten wie Cottbus oder Recklinghausen, sondern in Hamburg, München, Köln, Frankfurt und Stuttgart.

Zufällig griff ich mir den Goldprospekt dieser Tage als Lesezeichen für ein Buch, das ich gerade studiere: Es heißt: „Einführung in die Benediktusregel“ (von Michael Casey). Ich habe es dieser Tage bei Manufactum gekauft, wo sie ja gerne mit Dingen handeln, die ein Leben lang halten. Der heilige Benedikt hält es da eher mit der Degussa und fragt nach den Werten der Ewigkeit, allerdings mit leicht nuanciertem Ergebnis. Denn er schärft seinen Mönchen ein, dieses Leben sei ihnen lediglich als Frist gewährt zur Umkehr und zum Wachsen im Guten. Daher gebe es nur ein Ziel: die Ewigkeit des Himmelreiches. Goldbarren kommen da nicht vor.

Zu deutsch: Ein Benediktinermönch hat weder bei der Degussa noch bei Manufactum etwas zu suchen. Denn Benedikt sieht Privatbesitz – so klein, zweckmäßig oder hilfreich die Dinge auch sein mögen – als ernstes Laster an und verlangt dessen völlige Ausrottung aus dem monastischen Leben. So streng ist nicht einmal unser Sozialstaat.

Aber auch die Benediktinermönche haben es sich in dieser verordneten Kargheit offenbar aber ganz gut eingerichtet, wenn man sich ihre pracht- und energiestrotzenden Klöster von Maria Laach bis Andechs einmal näher anschaut – reges Wirtschaften und florierender Handel bestimmen das Bild, der Gelderwerb mag vom Teufel, aber für dieses Leben eben doch nützlich sein, und die benediktinischen Äbte erteilen da munter Ausnahmegenehmigungen. Benedikt hat es ja auch übertrieben, wenn er in seiner Regel 33 vorschreibt, seine Mönche dürften auch „kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel“ besitzen.

Man sieht: Währungskrisen erschrecken nur den, der über Besitz verfügt. Deshalb sind die Reden von Peer Steinbrück zum Thema auch viel lauter, aggressiver. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben das Thema über die Jahre eher zurückhaltend und ruhig begleitet, haben Schritt für Schritt zur Lösung beigetragen. Sofern sich ihre Lebensweise von außen beurteilen lässt, scheinen Sie dem benediktinischen Ideal jedenfalls näher als Ihr Konkurrent. Ihre Bescheidenheit, Ihr nur zurückhaltend demonstriertes Machtbewusstsein und Ihren gelassenen, analytischen Politikstil empfinden die Deutschen als angenehm.
Wir fühlten uns bei Ihnen gut aufgehoben. Dafür muss man auch einmal Danke sagen.
Mit allen guten Wünschen

Ihr

Michael Rutz

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt 52/vom 19.12.2012

Alle gegen alles. Brief an die Kanzlerin, 29

Liebe Frau Merkel,

geben Sie bei Google einmal „Bürgerinitiative gegen“ ein. In 0,30 Sekunden erscheinen 213 000 Treffer.  Allein auf der ersten Bildschirmseite formiert sich da Protest gegen CO2-Endlager, die B 50 neu, das Steinkohlekraftwerk Arneburg, das Gasbohren, Flughafenausbau, Massentierhaltung, den Weiterbau der A 1, Atomkraft, Amtswillkür, das Kraftwerk Virgental, Hochspannungsleitungen, Salafisten, Windkraft, Mobilfunk, Müllverbrennung, Torfabbau, Elbvertiefung….

Deutschland wird langsam unregierbar. Überall nur Protest. Im Süden Hamburgs, meiner Heimat,  sind die Menschen gegen Ölbohrungen (die die Energiewende unterstützen könnten) , gegen Autobahnspangen von der A 7 über die A 24 zur A 1, mit denen sich die regelmäßigen Riesenstaus südlich Hamburgs verhindern ließen. Sie protestieren gegen notwendige Lastwagen-Parkplätze an der A 1 in Richtung Bremen, sie wollen den Weiterbau der Northstream-Gaspipeline verhindern. Und in Hamburg formiert sich Protest gegen die Elbvertiefung.

Immer sind es nur Minderheiten. Vom Hamburger Hafen etwa hängen 150 000 Arbeitsplätze ab, aber ein paar Naturschützer scheren sich darum nicht. Der BUND etwa, der die Klage vors Bundesverwaltungsgericht brachte, lässt sich auch noch aus öffentlichen Mitteln dafür subventionieren, dass er einen existenziellen Großangriff auf die Hansestadt fährt. Instrument ist immer die Verbandsklage, sie kann in ihrer jetzigen Form Deutschland zum Stillstand bringen.  Und wo nicht juristische oder faktische Argumente geltend gemacht werden, sondern Emotionen, sind es dann Politiker vor Ort, die wider besseren Wissens zurückweichen, weil sie um ihre Mandate fürchten.

Man kann nicht für preiswerten Strom, aber gegen Kraftwerke sein. Man kann nicht gegen Atomkraftwerke, aber auch gegen Kohle- und Windkraftanlagen sein. Man kann nicht billig Fleisch essen wollen, aber die Massentierhaltung ablehnen. Man kann nicht gleichzeitig den günstigen Mallorcaflug und keine Flughäfen haben. Man kann nicht für die Energiewende sein, aber gegen den Bau von Überlandleitungen. Man kann nicht den CO2-Ausstoß beklagen, aber Kernkraft bekämpfen. Und auch der Ruf nach deutscher Energie-Unabhängigkeit passt nicht zusammen mit dem Kampf gegen Ölbohrungen in Deutschland. Und man kann nicht freie Fahrt und einen Ausbaustopp für Autobahnen gleichzeitig bekommen.

Politiker brauchen mehr Mut, und wenn mich meine jahrzehntelange Beobachtung politischer Prozesse nicht täuscht, haben sich die diejenigen Mandatsträger, die in wichtigen Momenten einen geraden Rücken gemacht haben und kurzfristigen Populismen nicht folgten, den größten Respekt eingehandelt. Helmut Schmidt lebt noch heute davon.

Und Sie, Frau Bundeskanzlerin, sind auch auf diesem Weg. Man nimmt es Ihnen nicht übel, wenn Sie unbequeme Wahrheiten sagen, im Gegenteil: Ihre Popularitätswerte sind genau deshalb gestiegen. Es ist deshalb auch an Ihnen, Ihre Parteikollegen zu ermutigen, den Anti-Bürgern zu sagen, dass es besser ist, dafür zu sein. Für den Weiterbau an einem ökonomisch gesunden und ökologisch gepflegten Industriestandort Deutschland.

Stets Ihr

Michael Rutz

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