6. Oktober 2025

Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Brief an die Kanzlerin, 37

Liebe Frau Merkel,

bitte, lassen Sie niemanden mitlesen, sonst wirft man uns vor, wir wollten die FDGO umstürzen. Deshalb: „Dieses Blatt müssen Sie sorgfältig außerhalb Ihres Hauses vor der Polizei verwahren. Sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen. Würde das Blatt dennoch bei einem gefunden hat, der es gelesen hat, so muss er gestehen, dass er es eben dem Staatsanwalt habe bringen wollen.“

Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Warum?  Revolutionär klingt das so: „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag. Sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache, das Volk aber liegt vor Ihnen wie Dünger auf dem Acker.“

Die Herrscher quetschen es durch Steuern aus, halten sich davon – sagt der Umstürzler – Soldaten, „mit ihren Trommeln übertäuben sie eure Seufzer und zerschmettern sie euch den Schädel, wenn ihr zu denken wagt, dass ihr freie Menschen seid.“ Sie  besolden eine Finanzverwaltung, „dafür wird der Ertrag eurer Äcker berechnet und eure Köpfe gezählt. Der Boden unter den Füßen, die Bissen zwischen euren Zähnen ist besteuert. Dafür sitzen die Herren in Fräcken beisammen und das Volk steht nackt und gebückt vor ihnen, sie legen die Hände an seine Lenden und Schultern und rechnen aus, wie viel es noch tragen kann“. Und die Herrscher garantieren Beamtenpensionen, „dafür werden die Beamten aufs Polster gelegt, wenn sie eine gewisse Zeit dem Staat treu gedient haben, d.h. wenn sie eifrige Handlanger bei der regelmäßig eingerichteten Schinderei gewesen, die man Ordnung und Gesetze heißt.“

Stellen Sie sich vor, was aus diesem Revolutionär noch geworden wäre, hätte er länger gelebt! Aber Georg Büchner, der vor 200 Jahren geboren wurde, starb schon mit 24 Jahren. Da hatte er bereits Philosophie und Medizin studiert und promoviert, hatte die Gesellschaft für Menschenrechte gegründet, mit der er die politischen Verhältnisse umstürzen wollte. Vor allem aber war er als Schriftsteller berühmt und berüchtigt geworden: Mit dem „Hessischen Landboten“, der in seiner Vermengung von politischen Forderungen und neutestamentarischen Begründungen ein Meisterstück der Sozialagitation gewesen ist: „Lehrt eure Kinder beten: ‚Herr, zerbrich den Stecken unserer Treiber und lass dein Reich zu uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.‘“ Seine  Meisterschaft war das Schreiben voller Sozialempathie, er wollte es mit den Umstürzlern, mit den kleinen Leuten, mit den Tätern halten in „Dantons Tod“, in „Leonce und Lena“, im „Woyzeck“.

Was lernen wir daraus? Zu allen Zeiten findet eine Mehrheit die Verhältnisse ungerecht. Die Anfälligkeit für politische Agitation ist groß, und sachbezogene Politik mithin schwierig. Da ist es nicht verkehrt, dass Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, nun eine Erhöhung des Kindergelds, des Kinderfreibetrages und eine Mütterrente in Aussicht gestellt haben. Es hat schon unsinnigere Wahlversprechen gegeben.  Denn: Wer Kinder aufzieht, der tut mehr für die Gesellschaft als viele der Sozialingenieure, die ständig neue Gesellschaftsutopien entwerfen. Georg Büchner eingeschlossen.

Ihr

Michael Rutz

 

(erschienen in ZEIT/Christ und Welt vom 6. Juni 2013)

Die Medien-Truppen (uni-) formieren sich: Brief an die Kanzlerin, 36

Liebe Frau Merkel,

Der eine Präsident hat, im Ausland, mit Millionen aus unklaren Quellen gepokert und die Erträge an der deutschen Steuer vorbeigeschleust. Er hat das auch gleich eingeräumt, hat sich zerknirscht den Medien zu Füßen geworfen. Also haben seine Aufsichtsräte Milde walten lassen, zurücktreten müsse er nicht, mal sehen, wie die Sache ausgeht, und: er ist ja auch ein zu netter Kerl, der Uli. Und die Medien finden das auch und lassen Gnade vor Recht ergehen, wenngleich sie die Nähe des netten Uli zur CSU unermüdlich bildhaft dokumentierten. Die SPD freut sich.

Der andere Präsident hat, man weiß es noch gar nicht, allenfalls ein paar hundert Euro geschenkt bekommen, vielleicht nicht einmal das. Die anderen Verdachtsmomente von ähnlicher Größenordnung sind ohnehin ausgeräumt, dennoch haben sie ihn schon beim ersten Anschein aus dem Amt gedrängt, Jagdlust unter deutschen Medien. Eine Gemeinsamkeit: Auch dieser ein Unionsmann. Dennoch zweierlei Maßstäbe, aber: der erste war nur Fußballvereins-Präsident, der andere Bundespräsident: quod licet bovi, non licet jovi, ließe sich sagen. Die SPD freut sich.

In Bayern haben Politiker nahe Verwandte auf Staatskosten zu Mitarbeitern befördert, was das Familieneinkommen oft um einige Hunderttausend Euro mehren konnte. Derlei war offenkundig nicht strafbar, nur ein bisserl Vetternwirtschaft im Freistaat wie zur Strauß-Ära, die Edmund Stoiber nach seinem Amtsantritt eigentlich getilgt haben wollte. Der eine oder andere Abgeordnete ist nun freiwillig zurückgetreten, weil sich das Verbleiben im Amt nur durch die Rückzahlung der Gelder hätte bewerkstelligen lassen, das war wohl zu teuer. Zwar wurden auch SPD-Abgeordnete ertappt, aber in den Medien erscheint dies als ein bloßer CSU-Skandal. Und die SPD verweist auf den Spezl-Sumpf.

Und nun sind Sie selbst dran. Sie hätten – schreiben Springer-Journalisten – es sich als Schülerin, Studentin und Jung-Wissenschaftlerin fein eingerichtet im SED-Staat und es verstanden, mit Kräften und Gegenkräften zum eigenen Nutzen zu jonglieren. Zwar seien ihnen Reformbestrebungen im Kommunismus sympathisch gewesen, andererseits aber hätten sie aus freien Stücken das Amt einer „Sekretärin für Agitation und Propaganda“ an ihrem Wissenschaftsinstitut in Berlin-Adlershof übernommen. Daher rühre eine in der CDU seit langem feststellbare Sozialdemokratisierung, kommentieren die enttäuschten Konservativen. Die anderen loben (ein wenig vergiftet) ihre verwickelte Biografie als Voraussetzung für die Ausprägung von Charaktermerkmalen, mit denen sie heute „das höchst diffizile sachliche, politische und menschliche Kräftespiel der EU-Spitzengremien instinktiv verstehen“ könnten, zudem sei Angela Merkel offenbar „in ihrer Jugend auf eine Weise unbehütet“ gewesen, „die sie heute furchtlos macht.“ Die SPD wird nicht zögern, weitere Fragen zu stellen.

Wir spüren: Der Wahlkampf hat begonnen. Die Truppen in den Medien (uni-)formieren sich. Welche Truppen hat die CDU noch?

Das fragt sich

Ihr

Michael Rutz

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt vom 16.5.2013)

Der Schatz europäischer Kultur: Brief an die Kanzlerin, 35

Liebe Frau Merkel,

 „Machten wir“, schrieb Ortega y Gasset einmal, „heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes auf, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon einem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen. Vier Fünftel unserer Habe sind europäisches Gemeingut.“

Ich habe das in den letzten Tagen selbst erspürt, und zwar auf dem schönsten Felde gemeinsamen Empfindens, der Musik. Am Donnerstag sah ich im Marinskij-Theater in Sankt Petersburg die wundervollen Tanzkompagnie, das Kirow-Ballett, mit „La Bayadère“, einer Liebesgeschichte. Welch eine Umgebung: das Haus erbaut von Zar Alexander II. für seine Frau Maria Alexandrowna von Hessen-Darmstadt in jener Stadt, mit der Zar Peter der Große Russland an Europa und seine Kultur heranführen wollte und sich dafür Architekten, Kunsthandwerker und Musiker aus Deutschland, Frankreich und Italien einwarb.

Zwei Tage später hörte ich den fast 80jährigen Südafrikaner Abdullah Ibrahim, der Ikone des Free Jazz am Klavier, der dem Kampf gegen die Apartheid eine musikalische Stimme gab. Er spielte im eindrucksvollen, unverdient unbekannten romanischen Kaiserdom von Königslutter, über dem Grab Lothars III., der ab 1133 Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation war. Dieses Reich zerfiel als Folge schwacher innerer Strukturen und nationalistischer Zentrifugalkräfte mit ihren territorialen Egoismen. Das Ergebnis: eine Zersplitterung Europas, die im durch seinen Föderalismus kraftgeschwächten Deutschland (und darüber hinaus in Europa) bis heute nachwirkt. Das Ende des Reiches war auch das Ende des Friedens in Europa. An die Zerfallsgeschichte dieses römisch-deutschen Reiches muss sich erinnern, wer heute an der Weiterentwicklung Europas arbeitet. Da braucht es einen langen Atem, weshalb ich, verehrte Frau Merkel, auch der Kolportage keinen Glauben schenken möchte, Sie wollten Ihr Amt 2015 aufgeben.

Am Sonntag zur Matinee-Zeit dann das nächste Konzert in der eleganten Heiliggeistkirche von Wolfsburg, die der finnische Architekt Alvar Aalto 1962 gebaut hat: Die weltberühmte Vokalgruppe „Ensemble Amarcord“, fünf ehemalige Thomaner, präsentierten hinreißend ein wahrhaft europäisches Programm: von Perotin (12. Jahrhundert) über Orlando di Lasso (16. Jahrhundert), Jean Cras (Anfang 20. Jahrhundert) und Darius Milhaud und Francis Poulenc, um mit einem Liebesseufzer („Toutes les Nuitz“) von Orlando di Lasso zu enden. Und am Abend schließlich ein Konzert in der heimischen Dorfkirche in der Lüneburger Heide: Vier Bläsersolisten aus Sankt Petersburg mit einem Programm zwischen Johann Sebastian Bach und Paul McCartney.

Musik aus ganz Europa inmitten zutiefst europäischer Baukunst, beides Ausdruck jenes gemeinsamen europäischen geistig-kulturellen Erbes, von dem Ortega y Gasset sprach: Das muss jeden befeuern, der an der europäischen Einging arbeitet. „Wir sind auf Europa ungenügend stolz“, sagte Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker dieser Tage. Da hat er Recht.

(Erschienen in ZEIT/Christ und Welt vom 25.4.2013)

 

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