7. Oktober 2025

Was ist konservativ?

Unter den Selbstbeschäftigungen, die Parteien sich zumuten, ist die Programmdebatte eine der sinnvollsten. Sie ist produktiv, weil sie Anlass gibt, die Wirklichkeit zu überprüfen auf Wandlungen mit programmatischer Bedeutung. Sie schafft Selbstbewusstsein vor allem dort, wo man zur Überzeugung kommt, dem sich wandelnden Zeitgeist nicht zu folgen. Sie schafft Identität durch Selbstvergewisserung, weil die Mitglieder wissen, wofür sie einstehen und die Wähler, bei wessen Geistes Kind sie ihr Kreuzchen machen. Das alles fehlt der Union gegenwärtig. Ihre Wähler sind verunsichert und fragen: Wofür steht in Deutschland heute eine moderne, konservative Partei? Ein Antwortversuch:

Eine moderne, konservative Partei definiert ihre Politik mit starkem Geschichtsbewusstsein. Daher wird sie wissen, dass die Konkurrenz von Nationalstaaten immer wieder kriegsauslösend war. Sie wird daher ein vereintes Europa in den Mittelpunkt ihres außenpolitischen Denkens und Handelns stellen und den deutschen Nationalstaat darin einbetten. Sie wird in ihrer Europapolitik immer die Interessen aller anderen EU-Mitglieder zu berücksichtigen suchen, ausgleichend wirken und deutsche Dominanz vermeiden. Sie wird die Bildung einer europäischen Identität unter den Bürgern der EU fördern und die Bildung eines europäischen Bundesstaates für möglich halten.

Sie wird Europa mit allen Kompetenzen eines Staates, auch den militärischen, ausstatten und sein aufgrund seiner Wertüberzeugungen selbstbewusstes, auch interessengeleitetes, Auftreten in der Weltgemeinschaft fördern.

Sie wird dieses Europa aus seinen historischen, kulturellen und hier zuerst seinen christlichen Wurzen begreifen, die unsere Auffassung von einem freien Leben unverändert prägen. Sie wird für die Lebendigkeit dieser Wurzeln eintreten, für ihre Revitalisierung dort, wo sie schwach geworden sind.

Dabei wird eine moderne konservative Partei anderen Religionen und Kulturen mit großer Toleranz, Offenheit, intensiver Dialogbereitschaft und großzügigen Integrationsofferten gegenübertreten. Sie wird die Akzeptanz der uns bedeutsam gewordenen Werte der individuellen Freiheit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Selbstverantwortung, der im Grundgesetz formulierten Menschenrechte und der Demokratie allerdings zum Ausgangspunkt dieser Dialoge machen und Einwanderungs- und Integrationsofferten dort enden lassen, wo die Akzeptanz dieser Überzeugungen abgelehnt wird. Mehr noch: Sie wird diese Werte wehrhaft, notfalls mit Waffengewalt, verteidigen – in Deutschland, Europa und anderswo. Sie kennt Toleranz, aber keine Toleranz gegenüber denen, die Intoleranz predigen.

Die Zusage an Europa ist zugleich eine Absage an jeden Nationalismus, auch an ein Staatsbürgerschaftskonzept, das auf dem ius sanguinis fußt, also der Parole: Deutschland den Blutsdeutschen. Deutschland gehört denen, die mit Pass und deutscher Sprachfertigkeit darin wohnen. In einer modernen konservativen Partei ist also kein Platz für nationalistische Parolen, deren innerer Urgrund auf Fremdenfurcht beruht und rassistische Aspekte aufweist.

Eine solche Politik anerkennt auch: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Eine moderne konservative Partei wird Einwanderungspolitik nicht zuerst als Sozialpolitik, als Geste des Mitleids, begreifen, sondern als Interessenspolitik des Wirtschafts- und Kulturstaates, jeweils mit dem Ziel seiner inneren Stärkung. Sprach- und Landeskenntnisse, Integrationswillen und Ausbildung, ein für den Wirtschaftsprozess noch sinnvolles Lebensalter darf sie als Kriterien der Einwanderungserlaubnis guten Gewissens vorgeben.

Sie wird Ghettobildungen zu verhindern suchen und Integration in und Identifikation mit dem Aufnahmeland fördern und fordern. Sie wird ihre Politik der internationalen Solidarität mit dem Ziel führen, den Menschen in ihren Heimatländern auskömmliche Lebensbedingungen zu schaffen.

Ein moderner Konservativismus wird den Gedanken des Vaterlandes und jedes Heimatgefühl fördern. Er hält deshalb die Gedanken des Föderalismus und der Bundesländer hoch und wird sich – im Konfliktfalle mit dem Nationalstaat – für diese entscheiden.

Ein moderner Konservativismus sorgt sich um die Erneuerung der Gesellschaft und ihrer inneren Lebenskraft. Er stellt Kinder und im Zusammenhang damit die Familie als System der gegenseitigen Solidarität und des Vertrauens daher in den Mittelpunkt seines gesellschaftspolitischen und gesetzgeberischen Handelns.

Er lässt dabei der Ehe von Mann und Frau eine besondere Förderung angedeihen, weil sie die verlässlichste Lebensform und damit für Familienentscheidungen jene Grundlage ist, die die relativ größte Zukunftssicherheit verspricht, für den einzelnen wie für das Land. Er wird fördern, Männer und Frauen gleichberechtigt an Kindererziehung und beruflichen Chancen zu beteiligen und alle gesetzgeberischen und finanziellen Voraussetzungen dafür schaffen. Er wird die Entscheidung von Elternteilen, sich ganz der Kindererziehung zu widmen, als dem Kindeswohl besonders dienlich anerkennen und die materiellen Nachteile einer solchen Entscheidung ausgleichen.

Eine moderne konservative Partei wird in ihrer Sozialpolitik von den Grundbegriffen der christlichen Soziallehre ausgehen: Personalität, Subsidiarität, Solidarität. Sie wird dabei der Erwartung Vorrang einräumen, dass der Bürger sich in Notfällen zunächst selbst um Hilfe bemüht, solange dies in seiner Kraft oder jener der ihn umgebenden Sozialstrukturen – etwa der Familie – steht. Erst, wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wird er denen, die sich selbst nicht mehr helfen können, mit staatlicher Sozialpolitik beispringen – dann allerdings kraftvoll und ausreichend.

Im Gegenzug wird diese Partei den Bürger nicht unbillig mit Steuern und Abgaben molestieren. Zu diesem Ziel begreift moderner Konservativismus den Staat zwar nicht als Minimal- oder Nachtwächterstaat, aber er erwartet, seine Ausdehnung auch deshalb begrenzen zu können, weil auf allen Ebenen ein freiwilliges, kommunitaristisches (bürgergesellschaftliches) Engagement blüht. Er wird sich in seinem Ausgabeverhalten demnach vor allem auf die sinnvollen meritorischen Güter konzentrieren, zuvörderst also Infrastruktur und innere wie äußere Sicherheit. Er wird Anpassungssubventionen auf ein Mindestmaß reduzieren und insbesondere von Erhaltungssubventionen Abstand nehmen, weil er den Strukturwandel für den notwendigen Motor des wirtschaftlichen Fortschritts hält.

Zu den meritorischen Gütern eines modernen Industriestaates zählt insbesondere die Bildung. Ein moderner Konservativismus wird deshalb die bestmöglichen Bildungseinrichtungen bereitstellen. Dabei fördert er den Leistungs- und Wettbewerbsgedanken und die Bildung einer Elite, deren Selbstbewusstsein allein auf Wissen und Können beruht. Die Zugangskriterien zu diesem Bildungssystem organisiert er nach Kriterien absoluter Chancengleichheit, mithin ohne Rücksicht auf soziale Herkunft, Reichtum oder Beziehungen.

Eine moderne konservative Partei wird die natürlichen Lebensgrundlagen entschieden schützen. Das betrifft nachhaltigen Klimaschutz. Sie wird mit großem Einsatz die Entwicklung von Technologien fördern, die nachhaltig umweltfreundlich sind. Die Erde ist aber auch Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Sie wird die natürliche Nahrungsmittelproduktion fördern, gentechnischen Methoden wird sie daher mit Vorsicht gegenübertreten.

Sofern diese gentechnischen Methoden den Menschen betreffen und in das werdende Leben eingreifen, wird moderner Konservativismus solche Methoden kompromisslos ablehnen, weil sie unvereinbar sind mit der Achtung vor der Würde des menschlichen Lebens. Konsequenterweise wird er die Abtreibungsdebatte wieder aufnehmen mit dem Ziel eines Verbots der Abtreibung nach sozialer Indikation. Am anderen Ende des Lebens wird sie konzessionslos lebensverkürzende Euthanasie ablehnen.

Sie wird eintreten für den laizistischen Staat, für die Trennung von Kirche und Religion. Aber sie wird die Kirchen als kritische Widerlager einer Gesellschaft in besonderer Weise in ihrem Ziel fördern, Menschen jene transzendentalen, ethischen und moralischen Grundlagen zu schaffen, ohne die eine Gemeinschaft von Menschen nicht zukunftsfroh und zuversichtlich leben kann. Sie kann dafür eine Haltung der Kirchen erwarten, die sich engagiert zeigt in der gesellschaftspolitischen Debatte.

Eine moderne konservative Partei wird ihre Überzeugungen mit Kraft und Selbstbewusstsein durchzusetzen suchen. Sie wird dabei aber eine konzeptionelle Demut an den Tag legen, die die Erneuerungsfähigkeit einmal gewonnener Überzeugungen zulässt.

Merkel bleibt sich treu

Koalitionen, deren Mitglieder unter Wahlstress stehen, geben kein gutes Bild ab. Das ist schon immer so gewesen, und jetzt ist es wieder so: Die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, in Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg sagen der CDU, vor allem aber der SPD durch das Aufwachsen der AfD schlechte bis verheerende Ergebnisse voraus.

Da rettet sich, wer kann. Sigmar Gabriel, der SPD-Chef, vergisst auf sein Amt als Vizekanzler und Koalitionspartner und fordert, panisch geradezu und ohne Absprache, umfangreiche Sozialpakete für die maßvoll situierten Teile der einheimischen Bevölkerung, damit deren Zorn auf die materiellen Leistungen für die bis 1,5 Millionen Flüchtlinge (und damit auf die mitregierende SPD) gemildert werde.

Über diese Forderung nach einem „Sozialpaket“ wiederum kann sich Wolfgang Schäuble gar nicht genug ereifern, er hält das für puren Populismus, für „erbarmungswürdig“ obendrein, „wenn wir Flüchtlingen in bitterer Not nur noch helfen dürfen, wenn wir anderen, die diese Not nicht haben, das gleiche geben oder mehr.“ Und da bremst es Schäuble auch nicht, dass er diese Gabriel-Watsche bei einer Pressekonferenz in Shanghai austeilt.

Horst Seehofer, der CSU-Chef, scheut die AfD wie der Teufel das Weihwasser und möchte diesen rechten Rand in Bayern gar nicht erst entstehen lassen. Deshalb gebärdet er sich selbst wie ein AfD-Agitator und fällt in regelmäßigen Abständen rhetorisch über die Kanzlerin her, fordert Flüchtlingsobergrenzen oder attestiert ihr, sie verwalte ein Regime des Unrechts. Das Gesamtbild: Eine Koalition, die streitet wie die Kesselflicker.

Unbeirrt und stoisch ruhig, auch eindrucksvoll prinzipienfest, bleibt allein die Kanzlerin. Einen Wechsel ihrer Politik stellt sie, auch am Sonntag bei Anne Will, nicht in Aussicht – es gebe, so sagt sie, keine Alternative zu einer europäischen Lösung und einer Zusammenarbeit mit der Türkei. Beides werde kommen, wenn es auch dauere. Also gibt es mit ihr auch keine Obergrenzen. Und schon gar nicht wird bis zum Wahltag am 13. März in den drei Bundesländern irgendein Sozialpaket Gabrielscher Vorstellung im Kabinett auch nur diskutiert.

Tatsächlich verfügen weder Seehofer noch Gabriel über wirklich praktikable und zugleich humane Ideen, wie man es anders machen könnte als die Kanzlerin. Auch sie wissen, dass der von Österreich organisierte Rückstau auf der Balkanroute nur vorübergehend Erleichterung schafft. Weder Griechenland noch die Türkei können das Flüchtlingsproblem ohne europäische und damit deutsche Solidarität lösen, der jetzt schmalere Flüchtlingsstrom wird wieder anschwellen. Viel wäre gewonnen, wenn es dabei gelänge, die tatsächlichen Kriegsflüchtlinge von den Wirtschaftsflüchtlingen wirksam bereits vor Einreise zu trennen.

Streit bis zum Wahltag am 13. März, erst einmal Ruhe danach. Man wird analysieren, Wunden lecken, Lehren ziehen. Diese Ruhe wird nicht lange anhalten, schließlich stehen schon ab Frühjahr 2017 in Ländern und dem Bund vier wichtige Wahlen an. Deren politische Agenda ist freilich heute noch gar nicht absehbar – zu unruhig sind die Zeiten.

Fluch und Segen des billigen Geldes

Die Deutsche Bundesbank, das ist man gewöhnt, ist ein verlässlicher Finanzier des Bundeshaushaltes. Milliardensummen werden jährlich erwartet, und selbst kurz vor Ostern ist es für den Bundesfinanzminister wie Weihnachten, wenn die Ablieferung höher ausfällt als erwartet. So auch dieses Jahr. 2,5 Milliarden Euro hatte Wolfgang Schäuble einkalkuliert, 3,2 Milliarden Euro bekommt er nun – unerwartet hohe Einnahmen hier wie auch bei den anderen Steuern – wenn’s läuft, läuft’s.

Die Art und Weise, in der die Bundesbank diesen Überschuss erwirtschaftete, ist freilich nicht ganz so erfreulich. Ein Großteil des Geldes stammt aus den Erträgen von Anleihekäufen, zu denen die Europäische Zentralbank im Verbund mit der Bundesregierung die Deutsche Bundesbank gezwungen hat: Anleihen von anderen finanzprekären EU-Ländern, die dringend Schulden machen mussten, weil sie vor dem Bankrott standen, die aber anderswo nicht mehr kreditwürdig waren. Dass sich nationale Zentralbanken aber in die risikoreiche Staatsfinanzierung begeben, das ist für Bundesbankpräsident Weidmann ein Sakrileg, weshalb er auch stets dagegen gewettert hat. Er hat Angst vor dem Ausfall dieser Anleihen. Diese Angst ist – betrachtet man die Regierungsprogramme in Spanien, Portugal, Italien oder Griechenland und anderswo – nicht unberechtigt.

Noch zeitigt die böse Tat nur Segen. Die Zinsen werden von den Schuldnern brav bezahlt, und sie waren wegen des Risikos nicht gering. Aber die Niedrigzinsen (wenn man davon überhaupt noch sprechen kann, manche Institute verlangen für Einlagen schon Strafzinsen) schaffen weitere Begehrlichkeiten. Die Überflutung der Märkte mit Geld – seit März 2015 pumpt die EZB monatlich 60 Milliarden Euro in den Kauf von Staatsanleihen – führt leicht zur Versuchung nationaler Regierungen, mit immer neuen Staatskrediten Konsumwünsche der Bürger zu befriedigen.

Die latente Gefahr: Steigende Preise, die gegenwärtig noch durch den niedrigen Ölpreis gehemmt sind. Tatsächlich aber wäre jetzt eine sehr solide Politik angezeigt: Mit dem billigen Geld lassen sich teure Kredite ablösen, Investitionen der Privatwirtschaft sind günstig und zeitigen zusätzliche Steuereinnahmen, die Konjunktur im Euroraum gewinnt zunehmend Schwung.

Lange sollte es freilich nicht mehr dauern, bis die Zinsen wieder steigen und die EZB ihre Geldschwemme beendet: Denn unter den Null-Zinsen leiden Lebensversicherungen und auch die Sozialversicherungen, die Zins-Erträge für eine nachhaltige Sicherung ihrer Leistungsfähigkeit gegenüber ihren Kunden fest eingeplant haben. Ein Crash an dieser Stelle würde die Vorteile des billigen Geldes rasch ins Gegenteil verkehren.

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