7. Oktober 2025

Petersburger Dialog: Große Erwartungen

Die vergangenen Tage haben kleine rhetorische Fehden zwischen Moskau und dem Westen erlebt – Anlass war das Gipfeltreffen der Nato in Warschau. Dabei ist es nicht mehr als Routine, dass die regulären Nato-Gipfeltreffen abwechselnd in den Hauptstädten der Nato-Mitgliedsstaaten stattfinden. Bekanntermaßen gehört, aus freiem Entscheid, auch Polen zum Militärbündnis, weshalb die Tagung in Warschau also in Ordnung ging. Ihre Brisanz bezog sie daraus, dass man in diesen Tagungsort und seine Beschlüsse einen Akt der besonderen Solidarität mit den Nato-Staaten an der russischen Grenze hineinlesen konnte: 4000 Soldaten rotieren künftig zwischen Polen und dem Baltikum, sie setzen ein Zeichen, werden aber nicht endgültig dort stationiert.

Das alles ist eine sehr moderate Antwort auf die Verletzungen des Völkerrechts und der territorialen Integrität, mit denen Moskau in den letzten Jahren seine Nachbarn verschreckt, gar enteignet hat. Die Annexion der Krim sitzt den Nachbarn Russlands in den Gliedern, sie müssen sich der Solidarität der Nato-Partner im Ernstfall sicher sein können. Und aus der Nato-Vergangenheit und der europäischen Geschichte vor 1989 haben wir gelernt: Appeasement-Politik, also ein eilfertiges ängstliches Einknicken vor der Machtlust anderer, hat sich noch nie ausgezahlt, im Gegenteil.

Der Kreml hat auf diese Nato-Tagung eher maßvoll reagiert. Die Militärs haben die Beschlüsse in Interviews als das eingeschätzt, was sie sind: Keine Offensive, sondern eine Maßnahme genau im Rahmen dessen, was die Vereinbarungen der Nato-Russland-Akte hergeben. Daran ändern die rachelüsternen Warnungen einiger politischer Falken aus Moskau nichts.

Nachlese wird in den kommenden Tagen gehalten: Dann tritt (13. bis 16. Juni) in Sankt Petersburg erneut der „Petersburger Dialog“ zusammen, mit prominenter Beteiligung aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Medien, Ökologie und den Sozialverbänden. In zehn Arbeitsgruppen (Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Bildung und Wissenschaft, Kultur, Medien, Zukunftswerkstatt, Kirchen, Ökologische Modernisierung, Gesundheit) – wird man dem Stand der deutsch-russischen Beziehungen auf den Grund gehen, und eine Diskussionsrunde mit dem Staatsduma-Präsidenten Sergej Naryschkin bemüht sich gar besonders um politische Semantik, in dem sie auf russischen Wunsch „Neue Grundlagen des Dialogs und allgemeine Inhalte der politischen Lexik“ debattiert, weil manche westliche Wortwahl im politischen Russland wohl missfällig gesehen wird.

Die Vorzeichen zu diesem Petersburger Dialog – der 2014 nach der Krim-Annexion erstmals seit seiner Gründung im Jahr 2001 ausgefallen war – stehen freilich auf Entspannung. Auf die kommende Tagung in der Stadt an der Newa hat besonders die russische Seite große Aufmerksamkeit investiert, handelt es sich doch um das bedeutendste noch bestehende bilaterale Gesprächsforum zwischen den beiden Gesellschaften, an dem zahlreiche Multiplikatoren, also „Meinungsmacher“, teilnehmen.

Auf russischer wie inzwischen auch auf deutscher Seite ist der Dialog im letzten Jahr mit politischer Bedeutung aufgeladen worden. Um das personell zu unterstreichen, hat die Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr veranlasst, den bisherigen deutschen Vorsitzenden Lothar de Maizière durch ihren engen Vertrauten Ronald Pofalla zu ersetzen, der diese auf deutscher Seite nicht einfache Mitgliederschaft bruchfrei in eine konstruktive Zukunft moderieren soll. Konflikte ergaben sich dabei vor allem durch die zusätzliche Aufnahme solcher Nichtregierungs-Organisationen in den Verein „Petersburger Dialog“, die die Kritik an russischen Zuständen, Gesetzgebungen und Menschenrechtsverstößen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation gestellt haben. Dem Dialog der vor Ort tätigen deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen ohne politischen, aber mit hohem sozialem Anspruch hat das nicht gut getan, man muss sie davor schützen, nicht unter die Räder der politisch-ideologischen Auseinandersetzung zu geraten. Weil das politische Russland aber klare Sprache versteht und letztlich auch respektiert, mag diese offensive Auseinandersetzung mit Russland dennoch einer Wiederannäherung Deutschlands und Russlands nutzen.

Diese Tage in Sank Petersburg haben aber auch ihre historische Symbolik, und die Programmgestalter haben das nicht übersehen: So sind die Teilnehmer eingeladen, in einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung „anlässlich des 75. Jahrestags des Überfalls auf die Völker der Sowjetunion an die Opfer des Zweiten Weltkrieges zu erinnern“, wie Ronald Pofalla das in seiner Einladung formuliert hat. Ursprünglich sollte dieses Gedenken auf den Pulkovo-Höhen vor der Stadt stattfinden, nun wird es auf dem Kriegsgräber-Friedhof von Piskarjowskoje in Sankt Petersburg durchgeführt, auf dem 470 000 Opfer ihre letzte Ruhe fanden. Die Teilnahme der deutschen und russischen Konferenzteilnehmer wird ein Zeichen dafür setzen, dass eine Wiederannäherung geschichtlich geboten ist.

Die Träume von einer Mitgliedschaft Russlands in der EU, gar in der Nato, von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok mögen ausgeträumt sein – aber jeder in Russland weiß: Die Zukunft des Landes liegt nicht in China, sondern in Europa. Ohne Europa wird es eine gute wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht geben. Wer in Russland Geld und Ehrgeiz hat, der schickt seine Kinder in europäische oder amerikanische Schulen, und er deponiert sein Geld im Misstrauen auf die eigene Wirtschaft im westlichen Ausland. Man braucht und schätzt Europa und besonders das kulturell eng verbundenene Deutschland, und umgekehrt ist in Deutschland und der Europäischen Union auch klar, dass es ein friedliches Europa ohne ein gutes Auskommen mit Moskau und dem russischen Volk nicht geben kann.

Die Stimmen in der russischen Politik, die den Kreml zu deutlichen Zeichen des Entgegenkommens aufrufen, nehmen zu, vor allem kommen sie von jenen (wie etwa dem langjährigen Finanzminister Alexeji Kudrin), die sich mit der tatsächlichen Lage der russischen Wirtschaft und Finanzen auskennen und denen deshalb nicht nach größeren Worten zumute ist, als die Tatsachen sie hergeben. Auf russisches Einlenken wird in den kommenden Monaten deshalb gehofft, zumal das bei voller Realisierung der Minsker Abkommen für den Kreml auch wirklich leicht zu machen wäre.

Feige vor dem EU-Volk

Die Ratlosigkeit nach dem EU-Austrittsvotum der Briten hält an, leider nicht nur in Großbritannien. Auch hierzulande überbieten sich politischen Akteure von Gabriel bis Schäuble mit Versicherungen, man werde die EU reformieren müssen, als Lehre aus dem insularen „Brexit“.

Als Lehre woraus, und Reform wohin? Was die Lehren betrifft, so lässt sich feststellen, dass die britischen Wähler einer üblen Anhäufung von Lügen, Verdrehungen, Polemik und Fremdenhass aufgesessen sind, einer propagandistisch aufgekochten emotionalen Melange, die Volksmassen seit jeher – und Deutschland weiß das besser als andere – aufzuwiegeln imstande war. Wir tun, das ist die große Lehre, sehr gut daran, unsere repräsentative Demokratie wieder aufzuwerten, in der gewählte Abgeordnete namentlich und persönlich Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen, deren Richtung wir bei Wahlen in den Wahlprogrammen zuvor haben prüfen können.

Wer besteht dennoch fortdauernd auf solchen Plebisziten? Es sind jene, die die beschriebenen emotionalen Mechanismen genau durchschauen und sie mit einfachen Slogans für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Es sind Organisatoren und „Aktivisten“, die von einer ideologische Idee getrieben werden und die Zeit für emotionale Kampagnen haben, weil ihr Einkommen entweder von Interessengruppen oder vom Staat subventioniert wird oder aus der Rentenversicherung kommt. Ihre Opfer sind all jene Bürger, die für kurze, gefühlige Botschaften auch deshalb empfänglich sind, weil sie ihr Geld noch mühsam verdienen müssen und auch deshalb glauben, „zu kurz gekommen“ zu sein. Die Gegenspieler solcher Aktivisten haben für aufwändige Gegenkampagnen meist keine Zeit oder auch nicht das Geld. Daraus entsteht bei Plebisziten eine perfide Assymetrie der demokratischen Teilhabe, ganz aktuell wird das von aus unergründlichen Quellen gut finanzierten Globalisierungsgegnern – viele davon verbrämte Nationalisten und Amerikafeinde – auch im Falle CETA und TTIP geschickt genutzt.

Die Politiker, die ihnen auf den Leim gehen, rufen jetzt nach EU-Reformen. Reformen wozu? Nichts an der gegenwärtigen Konstruktion der Europäischen Union ist fehlerhaft – nur die nach wie vor mangelhaften Kompetenzen des demokratisch gewählten EU-Parlaments, die ihm von entweder zaghaften oder antieuropäischen Regierungen und nationalen Parlamenten vorenthalten werden, und das Fehlen einer demokratisch kontrollierten EU-Regierung. Man müsse Kompetenzen aus Brüssel in die Nationen rückverlagern, wird gefordert – aber um welche es sich genau handeln soll, sagt niemand. Wer anders denke, habe „den Schuss nicht gehört“, heißt es – dabei war der Schuss einer der Polemik, des Nationalismus, des Unverständnisses komplexer Materien, der Untauglichkeit von Plebisziten.

Ist es zu vornehm, unsere gegenwärtigen Politiker zaghaft zu nennen? Sind sie nicht tatsächlich feige vor dem Volk, wenn sie sich jetzt – statt Europa zu verteidigen – in die Reihe der EU-Kritiker einreihen, obwohl sie genau diese EU aus guten Gründen mit konstruiert haben? Nähren sie das antieuropäische Feuer nicht gerade dadurch, dass sie gegen besseres Wissen den Emotionen nachlaufen? Schlimmer noch: Indem sie das aus Fehlinformationen entsprungene verbreitete Unwohlsein an der EU auf die Person des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu kanalisieren suchen, bedienen sie sich billiger propagandistischer Mechanismen und treffen einen der wenigen, die die europäische Idee noch teilen und offensiv verteidigen, ihre friedensstiftende Mission noch aus dem Erleben der eigenen Familiengeschichte zu begründen wissen und sich im Klaren darüber sind, dass dieser Friede künftig von mehr und nicht von weniger Europa abhängig sein wird.

Endlagersuche den Fachleuten überlassen!

Politische Entscheidungen haben selten dauerhaften Bestand. In absehbarer Zeit aber steht eine solche Entscheidung mit Ewigkeitswirkung an, nämlich bei der Beantwortung der Frage, wo der hochradioaktive Atommüll aus deutschen Kernkraftwerken dauerhaft gelagert werden soll. Wir erinnern uns, dass dafür eigentlich die Salzstöcke von Gorleben im Wendland in den Blick genommen waren. Dort aber erwuchs bürgerlich-politischer Widerstand, dessen Umfang und aktivistische Konstruktion im Poesiealbum der grünen Bewegung in Deutschland mittlerweile den breitesten Erinnerungs- und Identifikationswert einnimmt.

Wo solcher Widerstand droht, weicht die Politik bekanntlich zurück. Folgerichtig wurde die Sache neu ausgeschrieben, eine Kommission befasste sich mehr als zwei Jahre mit einer Neudefinition und legte gestern ihre Empfehlungen für die Auswahl des besten Standorts für einen dauerhaften Aufbewahrungsort für hochradioaktiven deutschen Atommüll vor.

Das Problem ist erheblich und von eigentlich unüberschaubarer Tragweite. So soll das Lager für die Dauer von einer Million Jahre bestmögliche Sicherheit bieten, also für eine Zeit, in der vermutlich zwanzig Eiszeiten über die Erde kommen werden, die alle geologischen Formationen komplett umstürzen, wie dies auch in den vergangenen Millionen Jahren gewesen ist. Umweltfaktoren dürfen den Müll dann nicht freilegen, und alle möglichen auch technisch unzivilisierte Gesellschaftsformen – wer weiß schon, was aus den Menschen da in Jahrtausenden wird – müssen mit einem solchen Endlager und seinem Management klarkommen.

Da wäre es gut, wenigstens dieses Problem würde mit höchster Sachlichkeit und unter Inanspruchnahme aller verfügbaren Kompetenz gelöst, mithin: nicht nach regional- oder interessenspolitischen Aspekten. Zu klären ist die Frage, welche der möglichen Wirtsgesteine Salz, Granit der Ton am besten geeignet sind und wo sich entsprechende Lager finden lassen. Und ausdrücklich sollte die Kommission Deutschland als „Weiße Landkarte“ betrachten, also ohne jede Vorbedingung arbeiten.

Die Ergebnisse aber waren noch nicht eine Stunde publik, da meldeten sich die erwartbaren Politiker und nahmen für sich das Floriansprinzip in Anspruch. Der niedersächsische Umweltminister wollte Gorleben von vorherein ausgeschlossen sehen, es sei „politisch verbrannt“ und Salz sei nicht geeignet. Bayern und Baden-Württemberg behaupteten eben das für Granit und fürchteten um ihre Natur, die zwar monströse Skilifte und Kunstschnee beeinträchtigen dürfen, keinesfalls aber ein Atomendlager. So wird es weitergehen: Standort um Standort verweigert sich und baut Drohgebärden auf.

Wie wäre es, wenn sich die Politik bei der Endlagersuche völlig heraushielte und sie alleine den Fachleuten überließe? Dann würde die Verantwortung dort konzentriert, wo sie bei diesem Ewigkeitsproblem hingehört. Die Umsetzung sollte dann zügig erfolgen, denn die radioaktiven Abfälle in irgendwelchen Schuppen bei den Kraftwerken herumstehen zu lassen, ist nun gar keine verantwortbare Option.

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