7. Oktober 2025

Straßburg und Speyer: Helmut Kohls Signale

Deutschland und Europa haben Helmut Kohl würdevoll zu Grabe getragen. Die Bilder dieser Ereignisse vom Wochenende aber werden nicht einfach in den Archiven verschwinden. Denn sie haben die Ikonografie der europäischen Geschichte um eine neue Dimension bereichert. Das hat langfristige Wirkung.

Die erste Botschaft, die von dieser neuen Form eines Europäischen Staatsaktes ausgeht, lautet: Nicht die Nation ist wichtig, sondern die Gemeinschaft der Nationen. Nur sie erhält den Frieden, wenn man diese Gemeinschaft mit Freundschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft ausfüllt. Bill Clinton, der ehemalige US-Präsident, hat das ausgedrückt, als er sagte: Helmut Kohl hat uns gelehrt, dass es Wichtigeres gibt als uns selbst, unseren Ehrgeiz, unser Amt, unsere persönlicher Machtfülle. Das war ein Appell an die Neonationalisten unter den EU-Mitgliedern, Ungarn und Polen zumal, Großbritannien erst recht – und EU-Ratspräsident Donald Tusk hat das auch beim Namen genannt.

Der Staatsakt in Straßburg war aber zugleich ein bisher ungekanntes Ritual, wie es normalerweise nur von einer Staatlichkeit ausgeht. Die Europäische Union aber ist (noch) kein Staat, ihr fehlen gegenwärtig noch eine Verfassung und der Wille der Menschen, ein europäisches Volk zu sein. Insofern war dieses Ritual ein vorweggenommenes Symbol solcher Staatlichkeit und ein Anstoß, aus einer solchen Vision Realität werden zu lassen

Zugleich wurde mit dem Europäischen Staatsakt so etwas wie eine „Ruhmeshalle“ für große Europäer begründet. Wer sich um die europäische Friedensidee besonders verdient macht – der darf einer solchen Ehrung und dem Einzug in diesen Olymp rechnen. Vielleicht fördert dieser Gedanke zu unser aller Vorteil den persönlichen Ehrgeiz mancher Politiker, dorthin zu gelangen.

Der Dom zu Speyer wiederum sendet Signale anderer Art. Er wurde von den Saliern gebaut als Manifest gegen ein dekadentes Papsttum in Rom, das die Salier auszuwechseln erzwangen. Er steht als Symbol für eine Kirchenreform, die sich von käuflichen Ämtern abwandte und zu neuer Unabhängigkeit und Innerlichkeit der Kirche fand.

Und er steht, in seiner neueren Geschichte, als ein Zeugnis der wechselvollen deutsch-französischen Geschichte da, ausgehend vom pfälzischen Erbfolgekrieg. Vor kaum mehr als 200 Jahren noch hausten napoleonische Truppen in den Mauern des beschädigten Doms und unterhielten dort ihre Pferdeställe, bevor Napoleon dann doch dem Wiederaufbau und der Rückgabe an die Katholiken zustimmte. Der Dom zu Speyer, mal französisches, dann wieder deutsches Territorium, ist also in vielfacher Weise ein sowohl christliches als auch europäisches Symbol.

Helmut Kohl, der Historiker, wusste um all das und hat es deshalb so gewollt. Die Menschen auf diese symbolhafte Weise über den eigenen Tod hinaus zum Frieden zu verpflichten – auch das ist intellektuelle Größe, in der seine Gegner Helmut Kohl häufig unterschätzt haben.

Kohl und die Geschichtsschreibung

Eine Eigenschaft des verstorbenen Altkanzlers Helmut Kohl wird uns noch zu schaffen machen: Er war von einem tiefen Misstrauen erfüllt gegen Historiker, die aus einer beliebigen Anordnung von Aktenfunden Geschichte schreiben. Kohl sah die Gefahr, dass auf diese Weise seine Leistungen beim Gelingen der deutschen Einheit marginalisiert, seine Bemühungen um ein einheitliches Europa relativiert und damit sein politisches Erbe beschädigt werden könnten. „Die Fälscher sind unterwegs“, sagte er dann, wenn ihm ein Kommentar unterkam, der insinuierte, seine Leistung bestünde mehr oder weniger darin, im Zusammenwirken der vier Siegermächte zur deutschen Einheit keinen Schaden angerichtet zu haben.

Kohl hat versucht, solchen Deutungen einen Riegel vorzuschieben. „Ich war doch dabei, ich weiß doch, wie es wirklich gewesen ist“ – und deshalb schrieb er alles auf. Mit größtem Elan und Detailbesessenheit verfertigte Kohl seine Memoiren, mehrbändig. Er gab die Kanzleramtsakten zur deutschen Einheit vorzeitig frei, damit er die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung noch erleben und gegebenenfalls würde korrigieren können. Zugleich gewährte er bereitwillig Interviews, um den Geschichtsbüchern reichhaltig Zitate und Schilderungen zu liefern, von einem Akteur der Weltpolitik. Viertägig stand er der ARD vor der Kamera zur Verfügung, um sein Leben zu erzählen. Und wenn es von Journalisten oder Historikern erbeten war, rief er auch schon einmal Michail Gorbatschow oder George Bush senior an, damit diese die Kohlschen Darstellungen bestätigen konnten.

So würde es nicht verwundern, wenn Helmut Kohls letzte Verfügungen vor allem der Frage gewidmet sind, was mit den Akten geschieht, die sich noch in seinem Besitz befanden, privaten Akten vor allem. Die Frage ist von geschichtspolitischer Bedeutung, obwohl so vieles schon offenliegt. Es wird einen Streit der Archive um diesen Nachlass geben, die Konrad-Adenauer-Stiftung macht sich Hoffnungen wie auch diverse Staatsarchive. Wem gehören Akten eines Bundeskanzlers?

Das alles belegt, wie sehr der Politiker Helmut Kohl stets in historischen Linien dachte. Jede Entscheidung prüfte er auf die langfristige Wirkung ab. Jede außenpolitische Regung wurde befragt: Hat sie noch in zehn, zwanzig oder 50 Jahren Bestand? Was würde ihre langfristige historische Folge sein? Kohl war keiner, der Geschichte einfach geschehen lassen wollte. Er wollte sie prägen, und er wollte gut in ihr wegkommen. Er dachte stets an sein eigenes Denkmal: Einer, der den Frieden schuf.

Zum Nachteil Deutschlands war das nicht. Politiker dieses Schlages handeln nicht leichtfertig, sie machen es sich mit Entscheidungen schwer, sie zählen eher zu den Zauderern. Man mag Kohl in manchen Dingen zu Recht den „Cunctator“ genannt haben, den zögerlichen Politiker. Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit jedenfalls war er das ganz und gar nicht, er gestaltete den historischen Moment so energisch, wie er auch die europäische Einigung und den Euro vorantrieb. Mit Spannung wird man erwarten dürfen, was die Akten des Kohl’schen Erbes jetzt noch hergeben.

Das nationale Interesse zählt

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland befinden sich auf dem Tiefpunkt. Die Weigerung Ankaras, deutsche Bundestagsabgeordnete zu den Bundeswehrsoldaten nach Incirlik zu lassen, kann die Bundeswehr zwar gut verschmerzen, ist ihre Funktion doch nicht von der Reiselust Berliner Politiker abhängig. Aber da die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist (der türkische Staatspräsident Erdogan wird solche Gewaltenteilung mit Abscheu sehen), liegt in der Weigerung Ankaras ein nicht akzeptabler Affront. Die Bundesregierung tut deshalb gut daran, den Umzug dieser Soldaten und Kampfjets nach Jordanien zügig umzusetzen.

Denn es gilt jetzt, der Türkei klare Kante zu zeigen. Das Land gehört zum Europarat, zur OSZE, zur Nato, tut aber so, als gingen die in den Gründungspapieren dieser Organisationen verankerten Grundsätze und gemeinsamen Werte sie nichts an. Mit Besserung ist nicht zu rechnen. Präsident Erdogan fährt unbeirrt einen Kurs der nationalen Islamisierung, er verwandelt das Land Schritt für Schritt in eine neoosmanische Autokratie.

So ist es gut, sich darauf einzustellen, dass die Türkei nicht mehr zum Westen gezählt werden will. Also wird auch die NATO künftig nicht mehr sein, was sie war – wenn sich die Türkei zurückzieht und andere Nationen, voran die USA, zu unsicheren Kantonisten werden. Ja, wir müssen lernen, unsere Dinge künftig in einer kleinen Koalition europäischer und friedenswilliger Freunde selbst zu regeln.

Dass es so weit kommen konnte, liegt auch an deutschem Verhalten. Die sachlich sinnlose und politisch unkluge Erklärung des Deutschen Bundestages zum Völkermord in Armenien, der hundert Jahre zurückliegt, konnte keinem anderen als einem provokatorischen Ziel dienen. Hinzu kam das Unverständnis für den radikalen Durchgriff nach dem Putsch in der Türkei, mit der Erdogan den „tiefen Staat“, der dort schon viel Unheil angerichtet hat, beseitigen will. Dass die deutsche Politik und auch die Medien dann auch noch dem deutschen so genannten Kabarettisten Jan Böhmermann, der gröbste Beleidigungen für einen Scherz hält, die Stange gehalten haben – das hat nicht nur die Türkei befremdet.

Was mittlerweile viele andere Staaten nervt, ist die moralische Überheblichkeit, mit der die deutsche Außenpolitik im Verbund mit Nichtregierungs-Organisationen daherkommt. In Deutschland reicht es offenbar nicht, selbst Vorbild zu sein und das Leben in unserem Land demokratie- und menschenrechtsperfekt zu organisieren. Vielmehr mischen wir uns mit immer neuen Forderungen und Kritiklawinen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein. Die mögen wirklich beklagenswert sein, aber es ist zuerst Sache der Bevölkerung dort, sich die Regierung zu wählen oder hinwegzufegen, die sie möchte.

Derweil kassiert Deutschland einen Positionsnachteil nach dem anderen ein. Alles ließe sich ändern, wenn wir in der Außenpolitik – wie andere Staaten auch – nun endlich daran Maß nehmen, was wirklich zählt: Das nationale Interesse.

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