24. April 2024

Kant würde weinen

10 000 Jahre ist es her, da ragte der Felsen Helgoland noch aus den weiten Wiesen der Doggerbank. Die Elbe floss damals bei Schottland ins Meer, bevor eine Erdwarmzeit die Gletscher der Arktis schmelzen ließ und das Land überflutete. Seither sind England und auch Helgoland Inseln, getrennt vom europäischen Kontinent. Für die Annahme, dieser Klimawandel sei menschengemacht gewesen, bestand es damals kein Anlass – kein Institut für Klimafolgenforschung, kein Hans-Joachim Schellnhuber, der die Nüchternheit aus der Wissenschaftsdebatte durch Emotion hätte ersetzen können. Und die Medien dazu hätte es auch nicht gegeben.

Heute ist das anders. Längst hat sich in alle Bereiche, die irgendwie mit den Grünen in Verbindung stehen, Panikmache eingeschlichen als probates Mittel zur Verfolgung politischer Ziele. Ob Kernkraft, Düngemittel, Freihandelsabkommen, ob Energiewende, Kohlekraftwerke, Krebsrisiken, Dieselmotoren, ob Feinstaub, CO 2, Fleischverzehr, Plastik oder Rohstoffabbau: Die Substitution des Verstandes durch emotionale Kampagnen ist an der Tagesordnung. Keiner blickt mehr zurück, wird skeptisch etwa durch Untersuchung der Frage, was eigentlich aus dem Ozonloch, dem Waldsterben, dem Rinderwahnsinn, der Vogelgrippe, dem Umkippen der Meere, dem Robbensterben und anderen vermeintlichen Katastrophen geworden ist, die uns politische Propagandisten und Medien jeweils über Monate eingehämmert haben.

„Aufklärung“, hat Immanuel Kant 1784 geschrieben, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Diesen Zustand haben wir längst verlassen. Ständig sollen wir am Nachdenken gehindert werden. Die Massenmedien, leider auch die öffentlich-rechtlichen, haben sich in den Dienst dessen gestellt, was gerade auf der emotionalen Tagesordnung steht. Nüchterne Sachargumente sind unwillkommener als der große emotionale Auftritt vor allem dann, wenn diese Aktionen vermeintliche gute Ziele mit Mitteln der Illegalität oder auch der Panikmache erreichen wollen.

Wer die Internetseiten des Bundesinstituts für Risikobewertung studiert, erfährt in nüchterner Sprache die Risiken des Lebens. Sie sind, für sich genommen, meistens extrem gering, weshalb das Lebensalter der Menschen auch zunimmt. Das passt nicht immer in parteipolitische oder ideologische Absichten. Wissenschaftler, die auf nüchterner Wissenschaftlichkeit bestehen, haben deshalb schon erleben müssen, dass man sie mit der Unterstellung irgendwelcher Abhängigkeiten oder Eigeninteressen denunziert. Viele haben deshalb schon resigniert, wissenschaftliche Beiräte sich zurückgezogen.

Diese Bundesregierung hat gegen diese Tendenzen wenig unternommen, hat sie im Gegenteil noch gestützt. Der methodischen Bekämpfung von Umweltschäden hat das nicht genutzt. Man mag sich gar nicht vorstellen, um wie viel intensiver solche Panikmache sein wird, sollten CDU und CSU eines Tages bundesweit mit den Grünen regieren. Kant würde weinen.

Diese Urheberrechts-Reform ablehnen!

Nun geht die Urheberrechts-Reform in die Endrunde: Entweder sie kommt in ihrer nun heftig umstrittenen Fassung – oder sie kommt einstweilen nicht. Vor diese Entscheidung gestellt möchte man den Abgeordneten im EU-Parlament, die am Dienstag darüber abstimmen sollen, zurufen: Lasst sie scheitern! Setzt Euch hin und verhandelt sie neu, in weiten Teilen genau so, aber mit Vergütungsregeln, die einen Uploadfilter garantiert überflüssig machen.

Ein solcher Filter wäre nach dem Stand der Technik notwendig, um das Copyright jener Beiträge zu prüfen, die Nutzer auf die Internetplattformen wie YouTube und andere hochladen. Denn die Betreiber dieser sozialen Plattformen sollen verpflichtet werden, für Copyright-Verstöße zu haften. Was also müssen sie tun? Sie werden die Filter sicherheitshalber so einstellen, dass garantiert nichts durchrutscht – und bei dieser Gelegenheit nolens volens auch Beiträge sperren, denen kein Copyright-Verstoß zugrunde liegt. Das ist Zensur – hier wohl noch absichtslos. aus der Absichtslosigkeit kann schnell Absicht werden, wie der Blick in andere Staaten zeigt, von der Türkei bis Russland.

Aus diesem Grund hatten auch CDU/CSU im Koalitionsvertrag mit der SPD festgelegt, einen solchen Filter abzulehnen. Die Unions-Abgeordneten in Brüssel fühlen sich daran offenbar nicht gebunden. Einer von ihnen ist ausgerechnet auch noch Berichterstatter für dieses Thema, Axel Voss, den die ganzen und berechtigten Demonstrationen gegen seine Zensur-Absichten nicht anfechten. Änderungen will er nicht mehr, sagt er in der ARD, „wir werden das ablehnen müssen, weil wir im Moment ein Trilog-Ergebnis auf dem Tisch haben, das nur in dieser Gänze zum Erfolg führen kann“, Änderungen stoppten das ganze Gesetz.

Das ist eine seltsame Begründung: Weil es schon kompliziert war, ein zwischen Rat, Kommission und Parlament zu verhandelndes schlechtes Gesetz zu erreichen, sind wir unfähig, ein besseres zu machen. Besser – das wären Regelungen, die zur Abklärung des Copyrights jene verpflichten, die Inhalte hochladen. Sie muss man zur Nennung ihres Klarnamens, zur Vergütung und die Plattformen zu einem entsprechenden Auskunftsanspruch verpflichten, ersatzweise auch die Plattformen zu einer pauschalen Vergütung an Urheberrechts-Gesellschaften wie die GEMA.

Die SPD hat schon reagiert und will entsprechende Änderungen vorschlagen. CSU und CDU hingegen blockieren, schlimmer noch: Den Menschen, die europaweit zu Millionen gegen diese geplante Upload-Notwendigkeit protestieren, unterstellen sie, gekauft zu sein von den großen Internet-Giganten. Im Übrigen ist es auch nicht kriminell, wenn YouTube und andere ihre Nutzer auf die Konsequenzen aufmerksam machen, die die vorgesehene Regelung haben wird. Denn dort überschaut man das deutlich besser als bei den technischen Laien im Europäischen Parlament.

Für die EU ist es auch ein Gebot der Klugheit, auf den Protest von Millionen junger Menschen zu hören. Gerade sie müssen wir für die Europäische Idee gewinnen, ihnen wollen wir zeigen, dass sich Freiheit in europäischer Gemeinschaft besser sichern lässt als in nationaler Nabelschau. Nun aber bietet die EU das gegenteilige Schauspiel.

Axel Voss gibt sich derweil larmoyant: „An die Stelle der sachlichen Debatte über das Urheberrecht ist der Versuch getreten, mich im Schutze der Anonymität … zu diskreditieren.“ Die allermeisten Gegner der gegenwärtigen Reform-Vorlage freilich sind weder gekauft noch unsachlich: Sie treten nur für uneingeschränkte Meinungsfreiheit ein, die die Grundlage unserer Demokratie ist. Dafür sollte auch der CDU-Europaabgeordnete Voss sein.

Die EU, Macron und Steinmeier

Der französische und der deutsche Präsident haben in diesen Tagen wichtige Reden gehalten. Sie beziehen sich nicht aufeinander, haben aber viel miteinander zu tun. Der eine, Emanuel Macron, hat in einem Moment erheblicher Destabilisierung Europas einen offensiven Zukunftsentwurf unterbreitet: „Freiheit, Schutz und Fortschritt“ – Macrons Ideen dazu sind zahlreich.

Eine Agentur soll Europa vor Hackerangriffen schützen. Parteien will er die Annahme von Finanzmitteln fremder Mächte untersagen. Hass- und Gewaltkommentare sollen aus den europäischen Internetangeboten verschwinden. Internetgiganten sollen inhaltlich und steuerlich gezähmt werden. Migration will er künftig europaweit einheitlich geregelt wissen: Neue Freizügigkeitsregeln, starke EU-Grenzpolizei, einheitliche Anerkennungs- und Ablehnungsregeln. Die äußere Sicherheit soll, in Abstimmung mit der Nato, ein Europäischer Verteidigungsrat koordinieren. Die Handels- und Industriepolitik soll an europäischen Interessen ausgerichtet werden. Auch einen einheitlichen Mindestlohn und soziale Mindeststandards möchte Macron ebenso installieren. Um all das zu erreichen, sollen, nach einer großen „Europakonferenz“, die EU-Verträge reformiert werden.

Manches daran mag im Detail schwierig werden. Dass sich Deutschland aber nun zum dritten Mal vom französischen Präsidenten hinsichtlich europäischer Zukunftsperspektiven zum Jagen tragen lassen muss, ist ein peinliches Zeugnis der außenpolitischen Visionskraft von Kanzleramt und Außenministerium. Die Europäische Union wird, auch aufgrund deutscher politischer Versäumnisse, von starken Zentrifugalkräften geplagt. Nationalistische Kräfte haben in vielen Ländern die Diskurshoheit gewonnen, sie erzeugen Angst vor europäischer Bürokratie mit der Behauptung, solche europäische Zusammenarbeit werde die Nationalstaaten schwächen und sie in ihrem kulturellen Wert als „Vaterland“ zerstören.

Vernünftige Überlegung zeigt: Das Gegenteil ist richtig. Erst die europäische Zusammenarbeit setzt bis dato ungenutzte nationale Kräfte frei, in Wirtschaft und Kultur ebenso wie in Fragen der Finanz- oder der Verteidigungspolitik. Erst solche Kooperation erzeugt die Macht, sich gegen die anderen Weltmächte zu behaupten, die derzeit versuchen, Europa zu filetieren und ihm seine Kraft zu nehmen.

Warum nationalistische Töne, warum Angst und Emotionen reüssieren, hat Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede dargelegt: Die wachsende Komplexität einer vernetzten Welt überforderten den Verstand der Menschen, sie fürchteten wirtschaftliche und soziale Verwerfungen. Wenn man dann das demokratisch verfasste Handeln – auch jenes in Europa – unzureichend kommuniziere, würden inmitten aller Informationsflut „Evidenz und Vernunft zu Optionen unter vielen“.

Tatsächlich: Europäisch stark zu handeln ist alternativlos. Die Kunst liegt darin, die Idee leidenschaftlich zu vermitteln. An solch proeuropäisch aufgeladener Emotion aber fehlt es. Das wiederum untergräbt die Lösungen der Vernunft. Steinmeier aber hat leider Recht, wenn er sagt. „Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie“.

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