19. April 2024

Die Brexit-Qual

19 Monate sind eigentlich eine lange Zeit. Seit dem Votum der Briten, aus der Europäischen Union auszutreten, gibt es aber über das Wie und Wann noch immer keine entscheidenden Fortschritte. Theresa May, die britische Premierministerin, hat keinen Plan, wie sie die Übergangszeit gestalten will und wie sie das Verhältnis zur Europäischen Union anschließend definieren möchte. Und hier geht es vor allem um Handelspolitik.

Das ist keine Petitesse, im Gegenteil. Denn die Staaten der Europäischen Union sind bei weitem Großbritanniens wichtigste Handelspartner. Im Jahr 2016 exportierte Großbritannien Waren und Dienstleistungen im Wert von 175 Milliarden Euro in die Europäische Union, für 291 Milliarden Euro bezog Großbritannien von dort Importe. Allein aus Deutschland kamen Waren im Wert von 86 Milliarden Euro.

Eine Einigung ist also für alle wichtig. Großbritannien möchte am liebsten die bisherige Zollfreiheit beibehalten, zugleich aber nach freiem Ermessen mit anderen Drittstaaten bilaterale Freihandelsabkommen abschließen. Das würde die EU nachhaltig beschädigen, weshalb sie nicht zustimmen wird. Zollfreiheit im Verhältnis zur EU wäre für London auch deshalb wichtig, um an der irisch-nordirischen Grenze nicht wieder Grenzen und Kontrollen hochziehen zu müssen, was den irischen Konflikt neu befeuerte – daran aber käme das Land ohne ein EU-Freihandelsabkommen nicht vorbei.

Die Wiedereinführung von Zollkontrollen bringt auch die britische Grenze zu Europa in Schwierigkeiten. Die Häfen in Dover und Folkestone sind schon jetzt überlastet, Zollkontrollen dort wären eine administrative und verkehrspolitische Katastrophe und bedeuteten für alle Importwaren eine drastische Zeitverzögerung, die sich in Zeiten der Just-in-Time-Belieferung kein Produktionsunternehmen leisten kann. Als der britische Schatzkanzler Philip Hammond nun den Vorschlag machte, dies durch ein anschließendes bilaterales Freihandelsabkommen mit der EU zu lösen (was bedeutet, dass für Großbritannien auch weiterhin EU-Normen sowie Rechts- und Schiedsgerichtsregeln gelten), schlug ihm eine Sturm der Entrüstung entgegen: Die Hardliner wollen einen endgültigen Bruch mit der EU und nichts mehr von ihr wissen. US-Präsident Trump assistierte mit dem törichten Hinweis, er hätte mit der EU viel härter verhandelt als Theresa May.

Neue Zollkontrollen: Für Großbritannien wäre das ein wirtschaftlich selbstmörderischer Kurs. Aber die EU muss sich auf eine solche Situation einstellen. Keinesfalls kann sie Kompromisse zulassen, mit denen die Briten so gestellt würden, als gehörten sie noch dazu. Dann fiele die EU auseinander. Härte in den Verhandlungen bleibt angesagt. Die Rechnung für ihren europafeindlichen Kurs sollen die Briten selbst bezahlen, und zwar in voller Höhe.

Deutschland – digitale Schlafmütze

Nun haben es alle eilig: Bis 2025 soll Deutschland flächendeckend glasfaserverkabelt sein. Denn, so hat es jetzt der Unions-Fraktionschef Volker Kauder in seinem 69. Lebensjahr entdeckt, es sei nun „allerhöchste Zeit, sich mit dem gewaltigen Umbruch zu befassen, der sich jeden Tag auf allen Kontinenten Schritt für Schritt vollzieht. Dieser Umbruch trägt den Namen Digitalisierung.“

Für andere Länder ist das ein alter Hut. Sie haben digital aufgerüstet, als bei uns noch palavert wurde über Chancen und Risiken, über Geld und Zuständigkeiten. Deshalb gehören wir bei der digitalen Infrastruktur heute zu den Schlusslichtern Europas. Nun plötzlich stehen unsere Politiker staunend vor der Geschwindigkeit des digitalen Wandels der Welt. Kommunikation, Wirtschaft, Medizin, Gesundheitsökonomie, Finanzwesen, alle Disziplinen der Wissenschaft, kurz: unser ganzes Leben verändert sich rasant. Wir verpassen die Chancen.

Der Rückstand begann zu Zeiten des damaligen Bundespostministers Christian Schwarz-Schilling (CDU) Ende der 80er Jahre. Damals wurde Deutschland erstmals verkabelt – allerdings mit schmalbandigen Kupferkabeln, obwohl zu jener Zeit die Glasfasertechnologie bereits zur Verfügung stand. Aber es musste schnell gehen, denn die Verkabelung sollte das Privatfernsehen durchsetzen und so das damals von der Union als ärgerlich empfundene Informationsmonopol des öffentlich-rechtlichen Fernsehens brechen.

Kupferkabel waren das falsche technologische Pferd – eine Entscheidung mit fatalen Folgen, die uns die mögliche Spitzenstellung in der Digitalisierungstechnik kostete. Sie liegt heute in den USA, selbst asiatische Staaten sind weiter als wir.

Wie schnell werden wir nun aufholen? Notwendig wären sofortige Finanzierungsprogramme für die Glasfaser-Verkabelung aller Regionen Deutschlands, in denen sich für die (man muss angesichts der dort sichtbaren Servicewüste mittlerweile sagen: leider) privatisierten Telekommunikationsunternehmen solche Investitionen wegen dünner Besiedelung häufig nicht rechnen.

Zu befürchten ist freilich: Es wird wiederum langsamer gehen als notwendig. Erst soll im Bundeskanzleramt ein „zentraler Koordinator für den Bereich Digitalisierung“ eingerichtet werden. Dann ein nationaler Digitalisierungsrat. Auch plant die Unions-Fraktion „der Digitalisierung eine eigene Veranstaltungsreihe zu widmen“, als hätte es davon nicht schon genug gegeben. Und man müsse erst „ein positives gesellschaftliches Klima für Innovation im digitalen Zeitalter“ schaffen, sagt Volker Kauder. Das ist natürlich längst vorhanden, die Gesamtheit des Volkes nutzt alles, was die digitale Warenwelt zu bieten hat. Da fehlt es an Überzeugungsarbeit wohl eher im Bereich des politischen Personals.

Reden braucht man nicht mehr, alles ist gesagt. Jetzt muss man handeln. Wenn sie es richtig und schnell macht, kann mit einer nächsten Bundesregierung wenigstens bei diesem Thema ein Ruck durch Deutschland gehen.

Bis es quietscht

Das abgenutzte Deutschland, so schluchzt es aus den Talkshows, brauche einen neuen Aufbruch, das ermüdete Personal müsse durch eine neue Politikergeneration abgelöst werden. Wo leben diese Nörgler? Deutschland befindet sich in der besten Verfassung seit Jahrzehnten, die Leute haben Arbeit und Einkommen, es lässt sich hier so gut leben wie nirgendwo, weshalb auch die halbe Welt zu uns ziehen möchte, die vorhandenen Politiker haben gut regiert. Aber es gilt: Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen.

So auch der Oberton beim SPD-Parteitag: Deutschland als Jammertal, voller sozialer Ungerechtigkeiten, deren Behebung man nun der CDU/CSU abtrotzen müsse, nachverhandeln „bis es quietscht“. Diese Jammerliste ausgerechnet von Andrea Nahles vorgeführt zu bekommen, entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe – sie war schließlich in den vergangenen vier Jahren Bundesministerin für Arbeit und Soziales der Großen Koalition, die ohnehin die politische Handschrift der Sozialdemokraten trug. Statt darauf stolz zu sein, üben sich die Sozialdemokraten in Selbstgeißelung. Sie werden nicht durch die CDU-Kanzlerin minimiert, sondern durch sich selbst.

Die SPD möchte, beispielsweise, die Ärztehonorare für die Behandlung von Privatpatienten denen für gesetzlich Versicherte angleichen, um den Anreiz zu bevorzugter Terminvergabe für Privatpatienten zu zerstören. Zerstört wird damit etwas ganz anderes: Viele Arztpraxen (gerade auf dem ohnehin schon unterversorgten Land) rechnen sich nur dadurch, dass die höheren Privathonorare die gesetzlichen Fallpauschalen gewissermaßen subventionieren. Auch will die SPD die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen. Sie unternimmt damit einen Anschlag auf kleine und mittlere Unternehmen, die nicht wissen, wie ihr wirtschaftlichen Morgen aussieht und daher bei den Personalkosten vorsichtig agieren. Zudem möchte die SPD die Bildungskompetenz auf den Bund übertragen: Wenn das bedeutet, dass die Schulqualität sozialdemokratischer Bundesländer Allgemeinstandard werden soll, dann hat die deutsche Bildungskatastrophe ihre Zukunft noch vor sich, die gegenwärtig vom vergleichenden „Benchmarking“ (im Blick auf Bayern oder Baden-Württemberg) noch einigen Leistungsansporn erhält.

Das alles kann für die Union nicht in Frage kommen. Wenn aber der SPD das Sondierungspapier nichts mehr gilt, dann hat auch die Unions-Klientel Wünsche: Abschaffung des Soli nicht nur für kleine und mittlere Einkommen, sondern für alle; zusätzliche steuerliche Entlastung für alle forschenden Unternehmen, um Zukunftstechnologien im Lande zu halten – auch die grüne und Human-Gentechnologie sowie die forschenden Pharmaunternehmen; eine radikal durchgreifende Digitalisierungsoffensive in der Infrastruktur und in den Schulen, um den Zukunftsanschluss in allen Teilen des Landes zu ermöglichen; einen marktwirtschaftlichen Umbau der Energiepolitik; und eine Flüchtlings-Integrationspolitik, die erstens viel mehr fordert, wenn sie schon so stark fördert und die zweitens den zusätzlichen Familiennachzug geringer ausfallen lässt als vorgesehen.

Man darf gespannt sein, ob der Erfolg der Union wiederum nur in der Feststellung besteht, man habe Schlimmeres verhindern können.

Follow

Get every new post delivered to your Inbox

Join other followers: