19. März 2024

Hamburg – ein Wahldebakel. Warum wir die Wahlpflicht brauchen.

Die Hamburger Ausgabe der ZEIT fragt sich in dieser Woche: „Wie links ist Hamburg?“ und titelt: „Fast 70 Prozent der Hamburger wählen SPD, Grüne oder Linke.“ Das muss man richtigstellen. Von den 1,8 Millionen Hamburgern waren bei dieser Wahl 1,3 Millionen wahlberechtigt. Von denen gingen aber nur 56,9 Prozent zur Wahl, also etwa 740 000. Wenn davon 70 Prozent „links“ gewählt haben, sind das 517 000 Wähler. Das sind 28,7 Prozent der Hamburger, und nicht 70 Prozent.

Die bedrückende Zahl in dieser Rechnung mag für den einen der Erfolg der Linken sein. Mich bedrückt eher, dass nur 56,9 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt Lust hatten, zur Urne zu gehen. Man mag einwenden, dass Wahlverweigerung das gute Recht des Demokraten sei. Das stimmt. Aber die Demokratie gerät mit derart schwachen Wahlbeteiligungen an ihre Legitimationsgrenze. Ist es eine demokratische Wahl, wenn gar keiner mehr hingeht? Welche Drohungen müssten interessierte Gruppen einsetzen, um das zu erreichen – um also einen Zustand der Unregierbarkeit herbeizuführen, in dem totalitäre Strukturen wieder eine Chance haben? Gegenwärtig, das muss man sehen, schwächen wir unsere Demokratie von innen heraus.

Diese Entwicklung, die auch in den müden Demokratien anderer Länder der westlichen Hemisphäre zu beobachten ist, trifft ins Herz des Westens. Die Zeiten sind ja vorbei, in denen „der Westen“ mit seiner Kultur, seinen Wissenschaftlern, seiner marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik, seiner industriellen Produktionsweise die Welt beherrschte. Diese Fähigkeiten haben andere längst adaptiert und haben den Einfluss des Westens und speziell Europas relativiert. Was als Kernstück westlicher (moralischer) Überlegenheit übrig geblieben ist, das ist das „normative Projekt des Westens“, wie Heinrich August Winkler das ein seiner wunderbaren „Geschichte des Westens“ formuliert hat. Worin besteht es? Seine Elemente sind die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, der Volkssouveränität, der parlamentarischen Verantwortlichkeit einer Regierung und die Gewaltenteilung.

Das alles lebt davon, dass wir ein verlässliches Verfahren haben, um den Mehrheitswillen in allgemeinen und freien Wahlen zu ermitteln. Wer dieses System zerstört, sei es aus Absicht, aus politischer Unbildung oder aus der Lethargie des satten Demokraten heraus, der nimmt in Kauf, dass die ganze Demokratie und damit das letzte Projekt des Westens verschwindet, das ihn noch trägt und in seiner Wahrung der Menschenwürde von anderen Teilen der Welt unterscheidet.

Was tun? Es gibt demokratische Staaten, in denen die Wahlpflicht zum bürgerschaftlichen Kanon gehört wie beispielsweise ja auch die Schulpflicht. Dieser Vorschlag macht Sinn: Wer auf den Staat und seine Sicherheitsgarantie vertraut und den so garantierten Freiheitsraum genießt, wer auf sein Infrastruktur-Versprechen hofft, wer von ihm Subventionen aller Art erwartet – der sollte sich gegen eine Wahlpflicht nicht wehren, sondern sie als selbstverständliche demokratische Tugend im freiheitlichen Staat betrachten.

Und dann, wie immer, die Bildungspolitik: Den Schülern, unter denen selbst Abiturienten die Orthografie für ein medizinisches Diagnoseverfahren halten, wird in den wenigsten Lehrplänen noch deutlich gemacht, dass in der Wahlteilnahme ihre erste Bürgerpflicht besteht.

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