19. März 2024

Wahlpflicht? Brief an den Verteidigungsminister.

Sehr geehrter Herr Dr. de Maizière,

der Einladung in eine politische Talkshow muss man folgen, zumal in Wahlkampfzeiten. Thema, Runde und Zusammensetzung des Publikums im Saal mögen noch so unterirdisch sein, man muss hin. Deshalb haben Sie letzten Sonntag bei Jauch mit Hartz-IV-Empfängern, Rentnern, Griechenlandhassern, Bankenfeinden, Euroskeptikern und anderen Politikverdrossenen darüber debattiert, ob man denn wählen gehen soll.

Natürlich hatten die Ankläger die Oberhand: Wann immer die Politikerkaste, Europa, oder vor allem die CDU geschmäht wurden, war das Publikum in seinem Jubel kaum zu bändigen. Je simpler die Argumente, umso größer der Applaus. Und wenn Sie die Politik verteidigten (etwa mit dem Satz, dass man nie die Partei bekommen werde, die die eigenen Vorstellungen vollständig abbilde, man also immer Kompromisse machen müsse), dann schnitt der Regisseur einen Zuschauer ins Bild, der gerade kopfschüttelnd hämisch lachte -der Regisseur bei Jauch scheint mir kein übermäßiger Politikfreund zu sein, und wenn, dann eher ein ziemlich linker.

Also, Sie haben Ihre Sache prima gemacht, und man muss Sie loben, dass Sie überhaupt solche Höhlen betreten, in denen Moderations-Millionäre feinfühlig ein wenig Öl in die Skandälchen-Feuer der Republik gießen, bevor sie sich nächtens auf ein letztes Glas Wein in ihre Nobelvillen zurückziehen. Dieses Procedere werden sie auch jetzt wieder einhalten, da in den Zeitungen eine geplante Hubschrauber-Beschaffung Ihres Ministeriums mit kräftigen Backen vom Vorgang zum Politthriller aufgeblasen wird. Wahlkampf eben.

Ein handfester Skandal allerdings ist es, dass den eitlen Demokratiefeinden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch noch solche Bühne geboten wird. Generationen haben Weltkriege überstanden, Diktaturen und Monarchien abgeschüttelt, um Demokratie zu etablieren. Und was passiert?  Die  freiheitssatten Bürger maulen, dass die riesigen Summen Sozialleistungen zu niedrig und die Steuergelder falsch (also nicht für sie) verwendet werden und rufen zum Wahlboykott auf. Sie stellen Ansprüche, aber nie an sich selbst. „Mich beunruhigt der Amateurklang meiner Klagen“, hat Martin Walser einmal geschrieben, „bei anderen schüttle ich den Kopf. Das macht den Amateur, dass er den Kopf nur bei anderen schüttelt.“ Diese Amateure und Wahlboykotteure haben nichts von Demokratie verstanden und auch nichts vom Wert der Freiheit. Sie haben sie nicht verdient.

Man wird mir sagen: Freiheit ist auch die Lizenz zur Wahlenthaltung! Richtig. Wenn aber die Wahlbeteiligung auf inakzeptable Werte sinkt, wird Wahlpflicht zum Gebot. Denn wenn das Volk herrschen soll, dann muss man es notfalls zur Teilnahme an der politischen Willensbildung zwingen, um die Demokratie vor dem Ausbluten zu bewahren: Wahlpflicht, damit nicht Diktaturen folgen.

Ich könnte verstehen, wenn auch Ihnen angesichts des ganztägigen Mäkelns der Medien und der politischen Gegner  ihr Politik-Job keinen Spaß mehr machte. Aber: Bleiben Sie. Sie sind einer der Besten.

Ihr

Michael Rutz

 

(veröffentlicht in ZEIT/Christ und Welt am 28.8.2013)

Lob für Kristina Schröder – ein Brief

Liebe Frau Schröder,

Sie haben als Bundesfamilienministerin auch Feindschaft erfahren, vor allem jener Frauen, die schon ihre einjährigen Kinder in Krippen abschieben wollen  oder müssen und missgünstig sehen, dass Sie mit dem Betreuungsgeld auch jene anderen Eltern besonders wertschätzen, die sich um die Erziehung ihrer Kinder persönlich kümmern. „Wahlfreiheit“, nannten Sie das.

Aber auch die Einrichtung der Krippenplätze ist wesentlich Ihr Erfolg. Seit Verabschiedung der entsprechenden Gesetzesgrundlage haben die Kommunen 300 000 zusätzliche Krippenplätze geschaffen, 780 000 davon gibt es jetzt, mit starker bundesstaatlicher Unterstützung. Sie wollten, dass die Nachfrage nach Krippenplätzen für unter dreijährigen Kinder zum 1. August erfüllt werden kann, damit man Ihnen nicht (mitten im Wahlkampf) sagen kann: Der Bund war schuld.

In die Familienpolitik fließt in Deutschland sehr viel Geld. Dennoch gibt die Mehrheit der Deutschen an, Kinder seien ihnen zu teuer. Zwei Drittel nennen finanzielle Gründe für die geringe Geburtenzahl, fast ebenso viele sehen die Kollision mit beruflichen Plänen als Ursache. In anderen europäischen Ländern ist das nicht viel anders.

Welch armseliges Zeugnis für Menschen, die in der großen christlich-europäischen Kultur aufgewachsen sind und die deren geistigen Grundlagen und Freiheitsdividende zu schätzen gelernt haben sollten! Kurzfristige Individualinteressen haben Zukunftsmut und kulturellen Überlebenswillen abgelöst. Und so kommt es, dass wir aus den Geburtenzahlen den Niedergang des abendländischen Europa ziemlich genau vorausberechnen können.

Damit eine Kultur sich hält, bräuchte sie einen Reproduktionsfaktor (also Kinder pro gebärfähiger Frau) von 2,11. Das Europa der 31 aber bringt nur 1,38 zusammen, bei ganz unterschiedlichem Wachstum einzelner Volksgruppen – am lebendigsten wachsen die Immigranten, vor allem jene mit muslimischem Hintergrund.

Das kann man hinnehmen, davor muss man keine Angst haben. Man muss diese Entwicklung aber realistisch sehen. Und beklagen darf sich auch niemand darüber, dass in vielen Ländern Europas  – voran Frankreich – in absehbarer Zeit mehr Moscheen als Kirchen stehen werden. Europa wird sich verändern. Und die Europäer haben selbst die Freiräume geschaffen, die nun durch Immigration aufgefüllt werden müssen, wenn die Wirtschaft lebendig bleiben soll.

So gerät man mit der Familienpolitik heute mehr als je in das Gestrüpp aus Ideologien, politischen Korrektheiten und besorgniserregenden Kulturkampf-Szenarien, wie sie seit Huntington die Debatte beherrschen. Nun muss die Politik stark genug sein, aus allem ein künftiges Europa zu formen, das aus toleranten, freiheitlichen, rechtsgefestigten Mitgliedern besteht, von denen keines aus dieser Verpflichtung ausbricht.

Sie jedenfalls, Frau Schröder, waren in der vergehenden Legislaturperiode eine sehr gute Ministerin. Sie haben für die Familien gekämpft. Danke dafür.

(erschienen in ZEIT/Christ und Welt am 8. August 2013)

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