19. März 2024

Mein Morgen Land. Brief an die Kanzlerin, 10

Liebe Frau Merkel,
 
Sie wissen, wenn  Sie ganz ehrlich sind, auch nicht genau, wie das mit dem Euro ausgeht. Überall ist ein erschreckender Mangel an Expertise, oder – andersherum: Die Finanzsysteme sind uns über den Kopf gewachsen, mit ihrem Verschuldungswahn haben die Politiker allerorten die Büchse der Pandora geöffnet, keiner weiß nun, wie man sie schließt. Die Menschen auf dem Lande besinnen sich dann der schlechten Zeiten: Es zählt nur, was man auf der eigenen Scholle anbauen kann. Deshalb steigen wie überall auch bei uns in der Lüneburger Heide die Preise für Ackerland. Ein Feld, das vom Bauerwartungsland weit entfernt ist, wechselte eben für vier Euro pro Quadratmeter den Besitzer.
 
Verrückte Zeiten. Ich habe mir ein Lieblingsbuch meiner Jugend aus dem Schrank geholt, „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ von John Seymour. Mit einem Morgen Land, das sind etwa 2500 Quadratmeter, lässt sich schon viel anfangen. Die eine Hälfte kann man als Grasland für eine Kuh, eine Ziege (für die Zeit, wenn die Kuh trocken ist), für die Aufzucht einer Sau und ein Dutzend Hühner nutzen. Die Kuh kommt ans Spannseil, Schweinestall und Hühnerschlag werden beweglich eingerichtet, um das Gelände optimal zu nutzen. Den anderen halben Morgen nimmt man zum Anbau von Früchten und Gemüse her: für eine Vielzahl von Kohl- und Rübensorten für den eigenen Verzehr und für die Fütterung, außerdem verschiedene Erbsen und Bohnen, Kartoffeln, Porree, Zwiebeln, Karotten, Sonnenblumen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Himbeeren, Rhabarber und Salate. Und einen großen Kräutergarten. Platz für ein Gewächshaus, für einen Werkzeugschuppen und einen kleinen, festgebauten Kuhstall ist auch noch. Man muss dann einem strikten Fruchtwechsel folgen, muss Gras- und Fruchtflächen auswechseln, muss melken, Käse herstellen, Obst und Gemüse einwecken und auch mal ein Huhn oder ein Karnickel schlachten oder einen Fisch ausnehmen können. Auch ein Jagdschein schadet nicht.
 
Ja, der eigene Acker, der eigene Wald: Darüber reden die Menschen hier, gerade am vergangenen Wochenende. Denn während Sie in Brüssel den Euro retteten, war in Egestorf „Kram- und Viehmarkt“, der schon vor 600 Jahren die Welt in die Nordheide brachte. Die Krämer importierten ja nicht nur den Jahresbedarf an Strick- und Töpferwaren, sondern auch die Nachrichten und Gerüchte von anderswo. Aber alles blieb unaufgeregt, von den Medien-Bazookas heutigen Kalibers wusste man nichts.
 
Ich verfüge nicht über einen ganzen Morgen Land, habe keine Kuh und kein Schwein. Aber die Salate sind gut geworden dieses Jahr, die Zucchinis auch, die Beeren, die Rote Bete, die Erdbeeren, auch die Marmelade daraus, während Äpfel, Pflaumen und Tomaten misslangen. Demnächst baue ich ein Gewächshaus auf, damit ich die Pflanzen in der kommenden Saison vorziehen kann. Und auch ein kleines Windrad wäre schön, sozusagen mein Merkelröttgen-Rad als Tribut an Ihre Energiewende.
 
Idyllisch? Ja, aber besser wäre es, Ihnen gelänge die Euro-Rettung, dauerhaft. Ich habe nämlich keinen „grünen Daumen“.(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

Mehr erklären! Brief an die Kanzlerin, 9

Liebe Frau Merkel,
 
auch jetzt in Bonn haben Sie am Tag der deutschen Einheit den Anlass genutzt, den komplizierten Werdegang der Wiedervereinigung zu rekapitulieren. Sie war, zum Beispiel, finanziell nicht gratis. Wir haben seit 1990 mehr als 1,2 Billionen Euro für einen erfolgreichen „Aufbau Ost“ aufgebracht, um das Gebiet der ehemaligen DDR, die rein materiell ein bankrotter Schotthaufen war, zu sanieren.
 
Gleichwohl gibt es den Solidaritätszuschlag (5,5 % auf Einkommens- und Körperschaftssteuer), der exklusiv im Osten Deutschlands unter die Leute kommt, immer noch. Allein 2010 waren das 11,7 Milliarden Euro. Und weil wir jetzt nach jedem Euro suchen, um unseren Bundeshaushalt und Europa zu sanieren, muss man sagen: Der „Soli“ ist für die neuen Bundesländer nicht mehr notwendig. Die Unterschiede zwischen Ost und West sind längst einem Nord-Süd-Gefälle gewichen. Nirgendwo in der Bundesrepublik sind die Lebensverhältnisse, wie das Grundgesetz es wünscht, wirklich gleich, noch lässt sich solche Gleichheit jemals herstellen. Und nach 20 Jahren ist es an der Zeit, dem Wettbewerbsföderalismus zu seinem Recht zu verhelfen und ihn auf dem allgemeinen Bundeshaushalt, den Ländersteuern und dem ganz normalen Finanzausgleich zwischen den Bundesländern zu fußen.
 
Letzte Woche haben Sie, verehrte Frau Merkel, bei Günther Jauch für die Zukunft Europas gekämpft, in das wir uns nach der deutschen Einheit verpflichtend eingebracht haben. Das war ein erstklassiger Auftritt, bei dem man hat spüren können, dass die Menschen auch Opfer bringen, wenn man ihnen nur ausreichend erklärt, was auf dem Spiele steht. Solche Merkel-TV-Auftritte brauchen wir vierzehntägig, denn derzeit hilft nur eins: Erklären. Wir müssen erklären, warum die Euro-Zone sofort eine einheitliche Fiskal- und Haushaltspolitik braucht „mit einem Durchgriffsrecht, das erzwungen wird“. Wir müssen deutlich machen, warum dazu auf europäischer Ebene zügig eine „Vertragsänderung“ nötig ist, damit es eine geordnete Umschuldung von Euro-Ländern geben kann. Und „irgendwann muss man über eine neue Verfassung abstimmen“, hier bei uns.
 
Die Zitate sind alle von Ihnen. Sie haben bei Jauch damit gezeigt, dass Sie einen Kompass haben. Die Menschen werden (wie bei der deutschen Einheit)  folgen, wenn man sie für ein Ziel begeistert, ihnen die damit verbundenen Chancen illustriert, aber auch die Folgen für Arbeitnehmer, Sparer, Unternehmer, die einträten, würden diese Maßnahmen unterlassen.
 
Fangen wir doch mit der Umwidmung des Solidaritäts-Zuschlages an. Lassen wir ihn zweckgebunden zur Schuldentilgung in den Bundeshaushalt fließen. Deutschland kann den strikten Sparkurs von anderen Euro-Ländern nur verlangen, wenn es ihn selbst vorführt.
 
Haben Sie weiterhin den Mut zur Penetranz, zur unzweideutigen Aussage: Die Lösung unserer Probleme heißt „Mehr Europa“, und das bedeutet in gar nicht so langer Frist den Europäischen Bundesstaat als solide regierte Gemeinschaft von Vaterländern. Dabei gewinnt Europa, dabei gewinnt Deutschland. Und Sie gewinnen dann auch die Wahlen 2013.(Die „Briefe an die Kanzlerin“ erscheinen in der Christ und Welt-Ausgabe der ZEIT.)

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